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Literatur & Kultur

Das digitale Höhlengleichnis

Walkaway
von Cory Doctorow; aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Langowski
Heyne Verlag, 736 S., 16,99 €

Eigentlich gäbe es genug für alle – doch in der Praxis haben einige Superreiche Vermögen, Einfluss und Macht unter sich aufgeteilt. Dem Rest der Bevölkerung – vermutlich mehr als 99 % – bleibt nur, von der eigenen Arbeit zu leben und das Versprechen: Der Tüchtige könne ohne weiteres selber in die Reihen der Superreichen aufsteigen; ein Versprechen, das von niemandem inbrünstiger geglaubt wird als von jenen Superreichen selbst.
Denn obwohl sie einer meritokratischen Ideologie huldigen – also glauben: Sie seien aufgestiegen, weil sie härter als die Härtesten und schlauer als die Schlauesten waren* – haben sie ihr Vermögen doch meistens geerbt; das Aufstiegsversprechen der Meritokratie wird in der Realität nur selten eingelöst.**
Stattdessen kämpfen die Lohnempfänger darum, ihren Job und damit ihren sozialen Status zu halten; denn stets stehen genug Menschen bereit, um „den Job eines anderen zu übernehmen, der womöglich überheblich wird und verlangt, wie ein menschliches Wesen behandelt zu werden.“
Die Superreichen unterdessen sind davon überzeugt, „sie könnten sich politisch, wirtschaftlich und epidemiologisch isolieren, sich über den steigenden Meeresspiegel erheben und ihre Nachkommen in Senkrechtstartern großziehen.“
Dies ist die Welt, aus der die Hauptfiguren in Cory Doctorows Roman Walkaway aussteigen wollen: Robert Etcetera, sein Freund Seth und Natalie Redwater entscheiden sich den „Default“ zu verlassen und in den „Walkaway“ zu gehen.
Die Gründe der drei sind verschieden und doch ähnlich: Sie treibt der Wunsch an, am Aufbau einer „besseren Nation“ mitzuwirken, nach einer sinnvollen und erfüllenden Arbeit jenseits einer von Spekulationsblasen getriebenen und rundum überwachten Welt.
Gleichzeitig möchte Natalie aber auch aus dem Leben als Tochter einer Superreichen-Dynastie ausbrechen und sich der ständigen Überwachung durch ihren dominanten Vater entziehen – denn sie weiß sehr genau, dass der Reichtum der Familie durch einen „Glücksfall vor langer Zeit“ entstanden ist, den ihre Vorfahren „durch jede Menge Bestechung, Korruption und Schäbigkeit zu nutzen wussten.“
Der Konflikt zwischen Natalie und ihrem Vater ist dabei eine der bestimmenden Handlungsachsen, entlang derer der Roman konstruiert ist; immer wieder wird er versuchen, sich in ihr Leben einzumischen, denn er möchte seine Tochter weiterhin überwachen, kontrollieren, ja besitzen – und sei es als Gefangene.

Und so verschlägt es die drei Hauptfiguren in den in der Einöde errichteten Gasthof Belt and Braces; dort lernen sie Limpopo kennen. Sie ist Herz und Seele des Gasthofes und führt die Neuankömmlinge in die Gepflogenheiten des Walkaway ein.
Das Ziel Limpopos ist es, „die Menschen davon zu überzeugen, nützliche Dinge herzustellen und zu teilen,“ um zum Beispiel „das beste Gebäude zu errichten, das überhaupt möglich ist.“ Dabei möchte sie auf jede Art von Anerkennung und Auszeichnung der Tüchtigen verzichten. „Wenn wir ein System einführen, bei dem die Leute um Anerkennung buhlen, laden wir sie ein, Spielchen zu spielen und die Statistiken zu manipulieren oder sogar ungesund viel zu arbeiten, um die anderen zu schlagen.“ – So ganz ehrlich ist Limpopo hier aber nicht: Denn in unbeobachteten Momenten schaut sie selbst gerne die Aufzeichnungen des Gasthofes an und stellt fest: Sie hat am meisten zu seinem Bau beitragen.
Und dennoch gibt sie der Gasthof ohne weiteres auf, als er von einer anderen Walkaway-Gruppe besetzt wird – um an einer anderen Stelle „etwas Neues wie das Belt and Braces zu machen, das noch besser ist als das alte.“
Im ersten Moment fand ich die Kritik Natalies, die sich jetzt „Iceweasel“ nennt, an Limpopos Verhalten sehr einleuchtend; doch dann wurde mir klar: In einer Welt, in der Energie und Rohstoffe für den 3D-Drucker in ausreichender Menge vorhanden sind, wird die materielle Verkörperung eines Gegenstandes an Bedeutung verlieren – und die in der Cloud gespeicherte Idee an Bedeutung gewinnen; nur diese Idee zu verlieren wäre noch eine Katastrophe.
Deswegen fällt es Limpopo nicht schwer, eine Version des Belt and Braces aufzugeben. Die Idee, der Plan eines Gasthofes, ist in der Cloud gespeichert und sie (oder jede:r andere) könnte heute oder morgen an einem geeigneten Ort mit der Errichtung einer neuen Version des Belt and Braces beginnen – und weil die Idee seit der letzten Version weiterentwickelt wurde, kann eine bessere Version des Gasthofes ohne die Fehler der letzten Version errichtet werden.
Die Bedeutung der Idee in diesem digitalen Höhlengleichnis ist dabei genau umgekehrt wie bei Platon: Die Idee ist nicht präexistent, sondern sie wird von einer Gruppe gemeinsam entwickelt und immer weiter vervollkommnet.

An dieser Stelle hätte ich mir den Roman etwas weniger nerdig und etwas mehr erdig gewünscht; denn die Frage, ob eine solche Lebensweise nicht vielleicht auch eine gewisse Entfremdung zur Umwelt auslöst, hätte Doctorow durchaus einer seiner Figuren in den Mund legen können. Doch stattdessen sitzen diese in ihrem Onsen – einem japanischen Badehaus – und diskutieren den Bau eines Gasthauses, als wäre es eine Open Source Software.
Konsequent treibt Doctorow das digitale Höhlengleichnis auf die Spitze: Denn er lässt einige Walkaway-Wissenschaftler eine Möglichkeit entdecken, das menschliche Gehirn zu scannen und dieses Digitalisat auf einem Computer als Simulation laufen zu lassen.
Der menschliche Geist – oder jedenfalls sein Digitalisat – wird so genauso beliebig reproduzierbar, wie materielle Dinge. Im Laufe des Romans werden fast alle Hauptfiguren sterben und als Digitalisat wieder auferstehen. Am Ende kann die Simulation sogar wieder in einen Körper gepflanzt werden; der Traum von der Unsterblichkeit scheint zum Greifen nah!
Den Walkaways bekommt diese Entdeckung nicht: Auf einmal sind sie für die Superreichen nicht mehr nur ein Haufen harmloser Spinner, der irgendwo in der Einöde lebt, sondern eine echte Bedrohung; denn die Unsterblichkeit ist eine Eigenschaft, die Superreichen gerne denjenigen vorbehalten möchten, die sie verdienen: sich selbst.
In den darauf folgenden Unruhen scheint es keinen klaren Sieger zu geben: Zwar verstetigt sich gegen Ende des Romans die Lebensform der Walkaways, aber der Einfluss der Superreichen bleibt – trotz mancher Niederlage – bis zum letzten Kapitel im wesentlichen ungebrochen.

Nach wie vor bin ich unsicher, ob für Doctorow die Lebensweise der Walkaways ein Modell für eine ideale Gemeinschaft ist, oder ob er auch diese im Roman einer kritischen Überprüfung unterziehen möchte; ich neige zu der ersten Vermutung. .
Schon die von Doctorow geschilderte Default-Welt dokumentiert das Scheitern der Demokratie umfassend: So hat sie das Problem der wachsenden Vermögen, wie es Thomas Piketty in seinem Buch Das Kapital im 21. Jahrhundert darstellt, eben nicht gelöst – und das obwohl Piketty im selben Buch eine Reihe von möglichen Strategien dafür darlegt; genau so wenig hat sie den Klimawandel in den Griff bekommen. Ob in dieser durch und durch korrupten Welt noch gewählt wird oder nicht ist gleichgültig, denn da sich die Superreichen (vermutlich) Politiker einfach mieten können spielt diese Frage eine so geringe Rolle, dass Doctorow sie gar nicht erwähnt.
Dieser düsteren Schilderung des Default steht die Organisation des Belt and Braces gegenüber; auch die ist nicht demokratisch, sondern folgt dem Grundsatz der Adhokratie. Das heißt es bildet sich eine Gruppe zu einem bestimmten Zweck – und wenn der Zweck erreicht ist oder ein Gruppenmitglied keine Lust mehr hat, kann er aussteigen. Die interne Organisation des Belt and Braces sieht dabei so aus: Jede:r darf verändern, was sie will. Sie muss nur damit leben, dass andere ihre Änderungen wieder rückgängig machen. Ob man eine kleine Gemeinschaft oder gar eine Gesellschaft nach diesen Prinzipien organisieren kann, bleibt für mich höchst fraglich.
Tatsächlich hätte gerade eine kleine Gemeinschaft wie das Belt and Braces eine Möglichkeit geboten, eine funktionierende Basisdemokratie am Werke zu zeigen, in der Menschen sich zusammensetzen, miteinander reden und am Ende eine Lösung finden, mit der alle leben können und die vielleicht sogar besser ist als die vorherigen Einzellösungen – und eben nicht einfach aussteigen, wenn Entscheidungen getroffen werden, die ihnen nicht in den Kram passen.
Genauso wenig behagt mir die von Doctorow projektierte Entdeckung der Unsterblichkeit: Er verschiebt damit die Grundpfeiler der Conditio Humana, nämlich die Sterblichkeit des Menschen – und schildert das, ohne die soziale oder philosophische Dimension dieser Entdeckung hinreichend zu würdigen. Denn in einer Welt in der es keinen Tod mehr gibt und Menschen immer neue Versionen ihrer selbst erschaffen können, spielt es keine so große Rolle mehr, ob man sich für das richtige Leben entscheidet – denn die nächste Version des eigenen Selbst bietet die Chance auf einen Neustart; das digitale Höhlengleichnis gilt und Menschen können sich von Version zu Version neu erschaffen, wie man es mit einer Software und – jedenfalls in diesem Roman – auch mit Gegenständen macht.
Doctorows Vorstellung von einer besseren Welt mag man daher für problematisch, ja abwegig halten; dennoch gelingt es ihm diese Gedanken in einen fesselnden Roman zu verpacken, der allerdings zum Schluss hin ein bisschen länglich wird.***

Anmerkungen

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde dort unter einer Creative Commons-Lizenz als gemeinfrei veröffentlicht; die genaue Bildquelle findest du [hier].

* Mit anderen Worten, sie halten sich selber für Figuren wie Dagobert Duck, so wie er von Don Rosa in Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden geschildert wird; dabei sind sie aber eher Figuren wie Klaas Klever (s. Kapitel 4: Der Kupferkönig von Montana).

** Ergänzend sei angemerkt, dass das Aufstiegsversprechen nur eingelöst würde, wenn die unfähigen Kinder der Superreichen auch absteigen würden – und daran haben diese gewiss kein großes Interesse.

*** Sean Gallagher hat in seiner Besprechung darauf hingewiesen, dass die in Walkaway geschilderte Welt eine Art Prequel zu Doctorows Roman Backup sei; dem habe Doctorow auch zugestimmt. Allerdings werden die Romane nicht als eine Serie oder auch nur inhaltlich zusammengehörig bezeichnet. Die Besprechung von Gallagher findest du [hier].