Gewalt und Mitgefühl – Die Biologie des menschlichen Verhaltens
von Robert M. Sapolsky; aus dem Englischen übersetzt von Hainer Kober
Carl Hanser Verlag, 1021 S., 38,00 €
„Sie ähneln dem Menschen zu viel und zu wenig,“ schreibt Alfred Brehm über die Affen in Brehms Tierleben,1 „anstatt unsere nächsten Verwandten und vielleicht Vorgänger wollen auch wir kaum mehr in ihnen Erkennen als Zerrbilder unserer selbst […].“
Vor allem die Schimpansen scheinen uns Menschen auf den ersten Blick sehr zu ähneln: Sie leben in patriarchalisch organisierten Gruppen und die männlichen Schimpansen wenden viel Zeit auf, um ihren sozialen Status zu verbessern. Sie neigen zur gewalttätigen Durchsetzung ihrer Interessen, sie verteidigen ihr Territorium gegen Eindringlinge und führen gelegentlich regelrechte Kriege gegen andere Gruppen.
Manche Anthropologen neigen daher zu der Ansicht: So wie die Schimpansen sind auch die Menschen veranlagt – jedenfalls von ihrer Biologie her.
Diese These greift jedoch in verschiedener Hinsicht zu kurz: Zum einen sind die Schimpansen keine Vorfahren der Menschen, sondern beide Arten haben gemeinsame Vorfahren – und auch die Schimpansen haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt. Zum anderen gibt es eine dritte Art, die von denselben Vorfahren abstammt: die Bonobos. Genetisch sind die Bonobos mit dem Menschen ebenso eng verwandt, mit den Schimpansen sogar deutlich enger.
Trotz dieser engen Verwandtschaft verhalten sich Bonobos anders als Schimpansen: Sie leben in weiblich dominierten Gruppen, neigen nicht zu übermäßiger Gewalttätigkeit, führen keine Kriege gegeneinander und sind die „Meister der Versöhnung“ – wobei ihre Versöhnungsrituale in der Regel eine sexuellen Hintergrund haben.
Wenn aber schon bei Schimpansen und Bonobos die ähnlichen Gene nicht zu ähnlichem Verhalten führen – warum sollte dies dann für Schimpansen und Menschen gelten?
In seinem Buch Gewalt und Mitgefühl – Die Biologie des menschlichen Verhaltens, erklärt der Neuwissenschaftler und Primatologe Robert Sapolsky, wie menschliches Verhalten entsteht – und kommt dabei zu dem Ergebnis: Biologische Prozesse bestimmen, wie wir uns verhalten; womöglich sogar vollständig. Gleichzeitig werden diese biologischen Prozesse durch unsere natürliche und soziale Umwelt beeinflusst. Die Frage, wie wir uns in einer gegebenen Situation verhalten sollen, kann die Biologie daher nicht beantworten.
Ein besonderes Augenmerk richtet Sapolsky auf die Entstehung von aggressivem, gewalttätigem Verhalten. Doch gibt es mit diesem Untersuchungsgegenstand ein unerwartetes Problem: Nicht jedes gewalttätige Verhalten wird von uns negativ bewertet, manchmal wird es auch toleriert, akzeptiert oder gefordert – mit Sapolskys Worten: „Wir hassen und fürchten nur die falsche Art von Gewalt. Gewalt im falschen Kontext.“
Weil der Kontext bei jedem Verhalten eine entscheidende Rolle spielt, hält Sapolsky auch nichts davon, Menschen oder Tiere in einem Labor oder Käfig zu beobachten – denn Beobachtungen außerhalb des natürlichen Lebensraumes können nur ein verzerrtes Bild liefern.2
Zusätzlich ist menschliches Verhalten komplex, zu komplex um es auf eine einzelne Ursache zurückzuführen; stets sind eine ganze Reihe von Umständen zu berücksichtigen.
Um dieser Komplexität angemessen Rechnung zu tragen und den Klischees der einschlägigen Fachgebiete zu entgehen, hat Sapolsky das Buch so aufgebaut, dass er zuerst die unmittelbare Ursache eines Verhaltens in den Sekunden zuvor untersucht und dann immer weiter in die Vergangenheit zurückgeht, bis hin zur Entwicklung der Menschheit „Jahrhunderte bis Jahrtausende zuvor.“
Diese Klischees zu vermeiden scheint notwendig, weil eine „besondere kategoriale Schublade nicht die ganze Wahrheit ist.“ Sie können im Gegenteil sogar ziemlich störend werden: „Häufig sind die Grenzen zwischen diesen Kategorien willkürlich, doch sobald eine willkürliche Grenze existiert, vergessen wir, dass sie willkürlich ist und lassen uns viel zu sehr von ihr beeindrucken.“
Unmittelbar entsteht Verhalten im Gehirn: Es ist eine Reaktion des Gehirns auf einen bestimmten Reiz, zum Beispiel eine Bedrohung. Wenn das Gehirn wahrnimmt, dass das Gegenüber eine Waffe zieht, reagiert es sofort.
Um die Reaktion in einer bedrohlichen Situation zu beschleunigen, nimmt die Wahrnehmung eine Abkürzung: Der frontale Kortex – zuständig für sorgsame und gründliche Abwägungen, aber etwas langsam – wird übergangen und stattdessen direkt die Amygdala angesteuert, die dann eine Reaktion auslöst. Diese sensorischen Abkürzung hat einen entscheidenden Nachteil: Die Wahrnehmungen werden ungenau verarbeitet – und das kann fatale Konsequenzen haben: „Die Amygdala glaubt, sie wisse, was sie sehe, bevor der frontale Kortex auf die Bremse treten kann: Ein unschuldiger Mann greift nach seiner Brieftasche und bezahlt dafür mit dem Leben.“
Gleichzeitig setzt eine solche Reaktion aber voraus, dass das Gehirn die Situation als bedrohlich erkennt; dabei können Faktoren wie Kleidung, Gesichtsausdruck oder Hautfarbe des Gegenübers eine Rolle spielen, kurz: das Weltbild und die Vorurteile der handelnden Person. Gerade in solchen Situationen von Leben und Tod sind wir oft „nicht die rationalen und autonomen Entscheidungsträger, für die wir uns gerne halten.“3
Ein weiterer Faktor sind die Hormone: Vor allem Stresshormone können dazu führen, dass der frontale Kortex öfter umgangen wird; die Folge ist fahriges, aggressives Verhalten.
Dagegen spielt etwa das Testosteron eine ambivalente Rolle, wenn es um gewalttätiges Verhalten geht: Neuere Forschungen legen nahe, dass Testosteron „die Verhaltensweisen [abruft], die erforderlich sind, um den Status zu wahren.“ In einem Kontext, in dem Fairness und Kooperation erforderlich sind, wird Testosteron solches Verhalten verstärken – davon abgesehen senken bestimmte Kontexte die Testosteron-Ausschüttung, zum Beispiel aktive Elternschaft.
Ebenso spielt für die Entstehung eines Verhaltens die individuelle Hirnentwicklung eine Rolle. Bis ein menschliches Gehirn vollständig entwickelt ist, dauert es gut 25 Jahre; als letztes reift die Gehirnregion heran, die uns befähigt, „den mutigen, schweren Weg“ zu gehen und die für das rationale Denken zuständig ist: der Frontale Kortex – genau deswegen ist er besonders stark von den Einflüssen der Umwelt geprägt: „Je später eine bestimmte Hirnregion reift, desto weniger ist sie dem Einfluss von Genen unterworfen und desto mehr dem der Umwelt.“
Es ist daher wichtig, in welcher Atmosphäre Kinder und Jugendliche heranwachsen, denn gerade Belastungsfaktoren in der Kindheit, wie Gewalterfahrungen, Tod eines Elternteils oder Mobbing in der Schule, können das spätere Verhalten eines Erwachsenen prägen. „Ganz schlicht gesagt, je mehr Belastungskategorien ein Kind bewältigen muss, desto schlechter sind seine Aussichten auf ein glückliches und erfülltes Erwachsenendasein.“
Eine viel geringere Bedeutung für das Verhalten haben die Gene: „In der übergroßen Begeisterung für die Gene kommt möglicherweise das Empfinden zum Ausdruck, Menschen besäßen ein unwandelbares Wesen, eine ‚Essenz‘ (obwohl es den Essenzialismus schon lange vor der Genetik gab).“
Diesen Glauben teilt Sapolsky nicht: „Gene werden durch alle Verkörperungen der Umwelt reguliert.“ Ein Mensch kann z.B. eine genetische Anlage zur Gewalt haben; wenn er in einem friedfertigen Umfeld heranwächst und lebt, wird diese Anlage vielleicht nie oder deutlich milder zu Tage treten, als wenn er einem gewalttätigem Umfeld lebte.
Wie ein Mensch in einer bestimmten Situation handelt, mag von biologischen Faktoren determiniert sein – aber diese biologischen Faktoren werden durch das natürliche und soziale Umfeld des Menschen beeinflusst: „Eine andere Welt sorgt für eine andere Weltsicht, und das heißt für ein anderes Gehirn.“
Ob die Evolution auf lange Sicht bestimmte Eigenschaften begünstigt und die Träger der dafür förderlichen Gene sich über viele Generationen hinweg besser fortpflanzen können, kann dahin stehen, denn diese Entwicklungen brauchen viele Jahrtausende. Auf jeden Fall wird ein Mensch durch das Umfeld geprägt, in dem er aufwächst und lebt – und genau deswegen kann unsere Biologie nicht als Entschuldigung dafür dienen, wenn uns ein friedliches und achtsames Miteinander nicht gelingt.
Zum Glück braucht die Menschheit diese Entschuldigung im Augenblick im großen und ganzen wenig, denn ihr gelingt ein solches Miteinander in den letzten Jahrzehnten immer besser: Die Gewalt in der Welt ist weniger geworden, große Kriege seltener und die Schwächeren werden immer besser geschützt;4 auch wenn wir das oft nicht so wahrnehmen.5
Diesen Prozess umzukehren braucht es einige Anstrengung: Mitten im Ersten Weltkrieg legten an Weihnachten 1914 britische und deutsche Soldaten an mehreren Frontabschnitten die Waffen nieder – und feierten zusammen Weihnachten. Erst nach massiven Drohungen der Oberbefehlshaber begannen die Kämpfe erneut. Die Soldaten stiegen wieder in ihre Schützengräben und wünschten sich gegenseitig, dass der jeweils andere heil durch den Krieg kommen möge.
Was wäre gewesen, fragt Sapolsky, wenn es damals schon Textnachrichten und soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook gegeben hätte? – Wären die Soldaten dann vielleicht auf den Gedanken gekommen, zu sagen: „Das ist doch Mist. Keiner von uns will noch länger kämpfen, wir haben einen Weg gefunden, den Wahnsinn zu beenden.“ Am nächsten Morgen hätten sie „heimfahren und ihre Liebsten küssen können, um sich dann mit dem wirklichen Feind zu befassen, der aufgeblasenen Aristokratie, die bereit war, sie zum Erhalt ihrer Macht zu opfern.“
Anmerkungen:
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Kirby, W. F.; Schubert, Gotthilf Heinrich von; Society for Promoting Christian Knowledge (Great Britain)., Natural history of the animal kingdom for the use of young people (Plate I) (5974366781), CC BY 2.0
1 Brehms Tierleben wird hier zitiert nach der Ausgabe Die schönsten Tiergeschichten aus Brehms Tierleben, ausgewählt, eingeleitet und mit einem Nachwort versehen von Roger Willemsen, erschienen im S. Fischer Verlag.
2 „Das Sozialverhalten von Ratten in einem Käfig zu untersuchen ist so, als beobachte man das Sozialverhalten von Delfinen in einer Badewanne.“ – Das ist für Sapolsky auch der wesentliche Einwand gegen jede behavioristische Theorie: Sie wird zu kurz greifen, weil sie den Kontext eines Verhaltens für irrelevant hält.
3 Das ist vermutlich auch ein Problem im Zusammenhang mit Polizeigewalt; wenn ein Polizist eine Situation für bedrohlich hält, kann dieser Umweg aktiviert und der frontale Kortex übergangen werden – mit gravierenden Folgen für das Gegenüber. Jeder, der sich für eine Reduktion von Polizeigewalt einsetzt, sollte diese biologische Komponente nicht ignorieren. Vermutlich kann man ihr nur durch intensives und regelmäßiges Training begegnen.
4 Allen, die das nicht glauben sei Steven Pinkers Buch Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit ans Herz gelegt.
5 Auch das hat etwas mit unserem Gehirn zu tun, wie Maren Urner in ihrem Buch Schluss mit dem täglichen Weltuntergang zeigt, das ich in diesem Blog am 15.01.2021 besprochen habe; die Besprechung findest du [hier].