Kategorien
Gesellschaft & Politik

News vom digitalen Lagerfeuer

Schluss mit dem täglichen Weltuntergang
von Maren Urner
Droemer Verlag, 222 S., 16,99 €

Am digitalen Lagerfeuer ist es ungemütlich. Geschichten werden kaum erzählt. Stattdessen gibt es massenweise Neuigkeiten, eine dringlicher als die andere, und jede löst hektische Diskussionen aus. Am Ende eines solchen Abends am Lagerfeuer kriecht man unzufrieden – und vielleicht ein bisschen genervt – in den klammen Schlafsack. Denn mal wieder wurde „alles gesagt und nichts erzählt.“*
Das hängt – wie die Neurowissenschaftlerin Maren Urner in ihrem Buch Schluss mit dem täglichen Weltuntergang feststellt – damit zusammen, dass Informationen im Internet einen recht geringen Wert haben. News werden in die Welt hinausposaunt und es spielt allenfalls noch eine Rolle, wer die Eilmeldung als erster draußen hat; bei längerfristigen Themen wird ein Liveblog angelegt – schon hat man das Publikum an der Angel. Und darauf kommt es an: Da es viel zu viele Informationen gibt, müssen sich die Journalist:innen mächtig ins Zeug legen, um im Kampf um die Aufmerksamkeit ihres Publikums zu bestehen.
Am leichtesten können sie in diesem Spiel punkten, indem sie – nach bewährtem Rezept – negative Nachrichten möglichst reißerisch aufmachen. Dagegen kann sich das Publikum nur begrenzt wehren: Das menschliche Gehirn hat eine besondere Vorliebe für schlechte Nachrichten; einfach weil es in der Steinzeit – als es zu einem wesentlichen Teil geprägt wurde – lebenswichtig war, nicht zu verpassen, wenn Mammut oder Säbelzahntiger vor der Höhle standen.

Allerdings taten sie das damals nicht im Minutentakt – zwischen den einzelnen schlechten Nachrichten waren ausreichend große Abstände, um sich zu beruhigen und das Erlebte einzuordnen.
Bleiben diese Pausen aus, ist unser Körper in ständiger Alarmbereitschaft – die Dauerbeschallung mit schlechten Nachrichten kann chronischen Stress auslösen und der wiederum ernstere Erkrankungen.
Bemerkenswert ist: Der Stress, den die Berichterstattung bei uns auslöst ist größer als der Stress des unmittelbaren Erlebens – „Nachrichten sind stressiger als die Realität.“
Am stressigsten dürften Nachrichten für die sein, die sie machen: die Journalist:innen. Zumal es zu ihren Aufgaben gehört, Dinge aufzudecken, die schief gelaufen sind. Deswegen ist es kein Wunder, das Journalist:innenen die Welt besonders negativ wahrnehmen.
Es entsteht eine merkwürdige Lücke (die „optimism gap“): Obwohl gerade Journalist:innen, aber auch ihr Publikum, mehr über die Welt wissen als je zuvor, nehmen sie vor allem das Negative wahr, weil es so gut in ihr eigenes – viel zu negatives – Weltbild passt. Deswegen wissen sie nicht: Der Zustand der Welt ist sicher nicht perfekt, aber er ist in vielerlei Hinsicht besser als jemals zuvor: Immer mehr Menschen können lesen und schreiben und immer weniger Kinder sterben in den ersten fünf Lebensjahren, immer mehr einjährige Kinder sind gegen Masern geimpft und immer weniger Menschen sterben an den Folgen von Naturkatastrophen – und das trotz Klimawandel.
Mit ihrer negativen Berichterstattung wollen Journalist:innen aufrütteln. Das gelingt ihnen aber oft nicht. Denn beim Publikum kommt die Botschaft an: Da kann man eben nichts machen. (Seufz.)
An dieser Stelle greifen mir Urners Ausführungen allerdings zu kurz: Das Konzept der „erlernten Hilflosigkeit“, auf das sie sich bezieht, wurde durch die Beobachtung von Hunden unter Laborbedingungen gewonnen – inwieweit es auf Menschen in freier Wildbahn übertragbar ist, ist nicht ganz klar. Mir fallen jedenfalls eine Reihe weiterer möglicher Reaktionen auf die fortgesetzte Erfahrung von Hilflosigkeit ein – und die reichen von widerwilliger Mitwirkung über ironische Distanz, offenen Spott und verdeckte Renitenz bis hin zu Sabotage, Terrorismus und Revolution.

Wie können Journalist:innen Nachrichten übermitteln, ohne ihr Publikum negativ zu beeinflussen? Urner liefert drei Rezepte, die sie als Mitgründerin des Medien-Startups Perspective Daily selbst erprobt hat.
Das erste Rezept ist „ein neuer Blick auf die Welt.“ Statt das Publikum mit einer (negativen) Meldung sitzen zu lassen, sollen Berichte auch die Frage beantworten: „Wie kann es jetzt weitergehen?“ – Die Antworten muss die Journalist:in sich auch nicht ausdenken, denn die Welt ist voller Lösungen!
So ein „konstruktiver Journalismus“ – und das ist Urner sehr wichtig – ist kein Kuschel-Journalismus. Er weicht kritischen Fragen nicht aus. Nur er lässt die Leser:innen nicht rat- und hilflos in einer (vermeintlich) immer komplexeren Welt zurück, sondern hilft ihnen die Welt, die schon immer komplex war, zu begreifen.
Ein anderer – von Urner nicht angesprochener Ansatz – besteht nach meiner Auffassung in einer tiefer gehenden Berichterstattung. Es wäre ja oft schon hilfreich, ein Problem von mehreren Seiten zu beleuchten und in seiner (zum Beispiel: historischen) Bedingtheit zu verstehen. Eine solche Berichterstattung würde mehr Geschichten erzählen, also mehr Fakten einordnen und bewerten.
Wie ist das Einordnen von Fakten mit der Verpflichtung zur objektiven Berichterstattung zu vereinbaren – also dem was die Kriegsreporterin Martha Gellhorn einst „all this objektivity shit“ nannte?
Urner räumt dieses Problem elegant aus dem Weg: Sie weist nämlich darauf hin, dass es eine objektive Berichterstattung gar nicht geben kann; denn von der Auswahl der Themen und Quellen bis hin zur Einordnung der einzelnen Fakten treffen Journalist:innen ständig subjektive Entscheidungen. Urner schlägt stattdessen ein Ideal journalistischer Transparenz vor: Journalist:innen sollten sagen, „warum sie sich so und nicht anders entschieden haben – statt ihre Entscheidungen als vermeintlich objektive Wahrheiten zu verkaufen.“
Das zweite Rezept ist „die richtige Dosis.“ Urner empfiehlt, Medien in bekömmlichen Mengen zu konsumieren. Deswegen habe man sich bei Perspective Daily zum Beispiel für einen Beitrag zu einem Thema pro Tag entschieden – anstatt eines endlosen Stroms an News.
Die Beiträge werden stattdessen mit ausreichend Zeit und Sorgfalt ausgearbeitet, ansprechend präsentiert und mit Hyperlinks, Erklärungen und Zusatzinformationen versehen. Zusätzlich gibt es einen Diskussionsbereich für Abonnenten.
Eine gewisse Zurückhaltung beim Medienkonsum sollte diesen Ansatz ergänzen, damit das Publikum „weg von der Nadel“ der News kommt. Das setzt aber eine Änderung der Informationsgewohnheiten voraus. Urner gibt mit Recht zu bedenken: Alte Gewohnheiten durch neue zu ersetzen ist schwierig – und gelegentliche Rückfälle in längst überwunden geglaubte Muster sind nicht auszuschließen.
Das dritte Rezept ist: „Das Handwerkzeug der Wissenschaft.“ Besonders spannend finde ich hier Urners Ansatz, Autoren „mit einem fachlichen Hintergrund“ zu bevorzugen.
Leider bleiben ihre Ausführungen an diesem Punkt vage und ich bin unsicher, ob ich ihr zustimme. Sollte sie die Auffassung vertreten, dass ein:e Journalist:in die Fähigkeit und den Willen haben muss, sich sorgfältig in ihre Themen – auch über einen langen Zeitraum – einzuarbeiten, dann stimme ich ihr zu.** Das wird in der Regel darauf hinauslaufen, dass ein:e Journalist:in eine wissenschaftliche Ausbildung benötigt, damit sie das notwendige Handwerkszeug besitzt, um sich in neue Gebiete einzuarbeiten.
Zweifel hätte ich, wenn Urner meinen sollte: Wissenschaftler:innen mit Sprachgefühl seien die besseren Journalist:innen. Natürlich können Wissenschaftler:innen auf sehr hohem Niveau über ihr Fachgebiet schreiben. Aber trotz tiefer Sachkenntnis dürften sie arge Probleme damit bekommen, über ihr eigenes Fachgebiet und seine Grenzen, die eigenen Kollegen und die eigene Forschung unabhängig zu berichten; den auf der nächsten Tagung wollen sie von den Kollegen schließlich immer noch ernst genommen und gegrüßt werden. Mir erscheint es daher dringend erforderlich, dass Journalist:innen unabhängige Dritte sind, die solche Rücksichten nicht zu nehmen brauchen.
Dass viele Journalist:innen profunde Kenntnis ihres Tätigkeitsgebietes haben zeigt sich, wenn sie über die lange Strecke gehen und zum Beispiel ein Buch schreiben. Dann gelingt das, was in den News fehlt, oft erstaunlich gut: eine tiefschürfende Analyse.

Ich finde es einerseits anregend und andererseits bedauerlich, dass Urner sich in ihrem Buch auf die Präsentation neurowissenschaftlicher Erkenntnisse beschränkt und die Erkenntnisse der Geisteswissenschaften unerwähnt lässt.
Möglicherweise wären die Erkenntnisse der Neurowissenschaften dann weniger neu und spektakulär als sie es auf den ersten Blick zu sein scheinen: Viele der von Urner behandelten Fragen werden bereits seit langer Zeit in den Geisteswissenschaften besprochen – oft mit erstaunlich ähnlichen Ergebnissen; insoweit greift das Buch oft recht kurz. Das macht Urners Antworten aber weder falsch noch ihre Fragen weniger dringend.
Auf der anderen Seite hat Urners Selbstbeschränkung einen nicht zu vernachlässigenden Vorteil: Sie legt ein leicht lesbares und gut verständliches Buch in einer ansprechenden Länge vor. Dem – von mir in das Buch hinein gelesenen – Wunsch Urners nach besseren Geschichten am digitalen Lagerfeuer stimme ich von Herzen zu.

Anmerkungen

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde dort unter einer Creative Commons-Lizenz als Gemeinfrei veröffentlicht; die genaue Bildquelle findest du [hier].

*) Diese Fragment einer Textzeile habe ich dem Song Laufenundfahrn der Band KRAUS entnommen; allerdings steht es dort in einem etwas anderen Zusammenhang. Wer reinhören will, findet den ganzen Song [hier].

**) Ich kann mir an dieser Stelle den Hinweis auf den Altbundeskanzler Helmut Schmidt nicht verkneifen, der der Auffassung war, „er sei auch nach 25 Jahren [bei Der Zeit] noch nicht Journalist, weil es sich nicht abgewöhnen könne, gründlich zu arbeiten.“ (Berichtet von Theo Sommer in seinem Buch Unser Schmidt – Der Staatsmann und der Publizist).