Das ist bei uns nicht möglich
von Sinclair Lewis; aus dem Englischen übersetzt von Hans Meisel
Aufbau Verlag, 442 S., 24,00 €; 14,00 € (Taschenbuch)
Die Bilder waren häßlich: Eine aufgehetzte Menschenmenge dringt in das Kapitol in Washington D.C. ein. Die laufende Sitzung des Kongresses wird unterbrochen. Die Eindringlinge greifen Polizisten an, verwüsten Büros von Abgeordneten und dringen bis in den Sitzungssaal des Senates vor. Abgeordnete beider Parteien verbarrikadieren sich unterdessen in Sitzungsräumen und Büros.
Angestachelt hatte die Menge der abgewählte Präsident Donald Trump. Seine Anhänger:innen wollten die formale Wahl von Joe Biden zum Präsidenten verhindern. Denn obwohl Trump die Wahl und nahezu jedes Gerichtsverfahren zur Anfechtung des Wahlergebnisses eindeutig verloren hat, sind seine Anhänger:innen und er felsenfest überzeugt: Trump habe die Wahl haushoch gewonnen und sei von finsteren Mächten um den Sieg betrogen worden.
Nach wenigen Stunden bereiteten Capitol Police und Nationalgarde dem Spuk ein Ende. Fünf Menschen starben bei den Krawallen, unzählige wurden verletzt. Inzwischen müssen sich viele der Beteiligten für ihre Taten vor Gerichten verantworten und sogar gegen den Präsidenten Trump wurde ein zweites Impeachment-Verfahren eingeleitet.
Trotzdem frage ich mich: Hätte jener „Sturm auf das Kapitol“ erfolgreich sein können? – oder anders formuliert: Ist eine Tyrannei in den USA möglich?*
Genau diese Frage diskutieren in Sinclair Lewis im Jahr 1935 erschienenen Roman Das ist bei uns nicht möglich einige Honoratioren aus dem Provinzstädtchen Fort Beulah, Vermont, nach einem Rotarier-Meeting. Der Hausherr, Steinbruch-Besitzer Tasbrough, sehnt einen „wirklich starken Mann“ geradezu herbei: „Der würde das Land wirklich wieder auf die Beine bringen.“ Denn die Lage ist ernst: Auch im Jahr 1935 – sechs Jahre nach dem Schwarzen Freitag – hält die Weltwirtschaftskrise die USA fest im Griff. Zwar versucht Präsident Roosevelt mit seinem New Deal Abhilfe zu schaffen, doch der Erfolg bleibt bisher überschaubar und zudem ist den Herren die von Roosevelt betriebene Ausdehnung staatlicher Leistungen höchst suspekt. Allerdings – vermerkt der Gastgeber mit einem Seufzen – einen starken Mann werde es nicht gebe:. „Hier bei uns in Amerika ist sowas nicht möglich.“
Zweifel meldet der Zeitungs-Herausgeber Doremus Jessup an: Er nennt schon den Wunsch „den Teufel Demokratie mit dem Beelzebub Faschismus“ auszutreiben eine „ulkige Heilmethode“, denn er ist überzeugt: Eine Tyrannei in Amerika ist möglich.
Hintergrund dieser Debatte ist die bevorstehende Wahl zum Präsidenten, bei der der (fiktive) Senator Burzelius Windrip unter anderem gegen den amtierenden Präsidenten Roosevelt antritt.
Windrip inszeniert sich als Freund der einfachen Leute, als Gegner der verlogenen Presse, des internationalen Handels und der Gleichberechtigung der Frauen; und natürlich ist er ein ausgesprochener Rassist und Gegner der Bürgerrechte der Afroamerikaner.
Seine Chancen steigen beträchtlich, als sich ein populärer Radio-Prediger und die von ihm angeführte „Liga der verlorenen Männer“ auf seine Seite schlägt. Bei diesen „verlorenen Männern“ handelt es sich um die Abgehängten der Weltwirtschaftskrise und des Ersten Weltkrieges – mehr als 20 Millionen potentielle Wähler.
Den Wahlkampf führt Windrip in der populistischer Manier: In seinen Reden hetzt er gegen „die jüdischen Finanzhyänen“, „die habgierigen Bankiers“, „die falschen Wirtschaftsführer“ und „die falschzüngigen Moskauer Spitzel“ – und verspricht seinen Wählern „ein demokratisches Paradies, in dem nach Abbruch des korrupten alten Systems, der geringste Arbeiter ein Herrscher sein und seinesgleichen in den Kongress entsenden werde.“
Wirklich ernst scheint den Inhalt dieser Reden kaum jemand zu nehmen: Der erfahrene Journalist Jessup – selbst kein Windrip-Fan – ist zunächst von der Hysterie der Massen angesteckt – und ein paar Stunden später sich nicht mehr sicher, was Windrip „denn wirklich gesagt hatte.“
Viel klarer ist sich Jessups pflichtvergessener Gärtner Oskar „Shad“ Ledue: Ihn zieht Windrips Versprechen einer Jahreszahlung von drei- bis fünftausend Dollar an.
Windrip gewinnt die Wahl – doch seine tatsächliche Herrschaft hat nichts mit seinen luftigen Versprechungen gemein: Unmittelbar nach seiner Vereidigung beginnt er mit der Errichtung seiner Tyrannei: Er setzt Kongress und oberstes Gericht aus und macht seine Schlägertruppe, die „Minute-Man“, zur allmächtigen Hilfpolizei, die fortan seine Gegner im ganzen Land terrorisieren.
Die Blaupause für Windrips Herrschaft ist klar zu erkennen: Es ist die erste Phase der nationalsozialistischen Diktatur bis zur Ermordung der SA-Führung im Juni 1934. Das liegt auch aus biografischen Gründen nahe, denn Lewis verfügte über eine exzellente Quelle: Seine Ehefrau Dorothy Thompson war bis zu ihrer Ausweisung im August 1934 Auslandskorrespondentin in Berlin – und erlebte die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur hautnah mit.
Jedoch kann Windrip seine Herrschaft nicht stabilisieren; anders als Hitler gelingt ihm das Bündnis mit den alten Eliten nicht. Nach gut zwei Jahren wird er von seinem Stellvertreter ermordet, der nur allzu bald selbst das Opfer eines Mordkomplotts wird. Erst dessen Nachfolger gelingt es, die Tyrannei zu stabilisieren und eine Diktatur mit puritanisch-kapitalistischem Gepräge zu errichten – nun unter eifriger Mitwirkung der alten Eliten, denen seine Herrschaft sehr entgegen kommt, denn: „Er führte die Nation wie eine Fabrik.“
Jessup, der Held des Romans, erlebt unterdessen, wie sich das Leben in Windrips „demokratischem Paradies“ anfühlt. Nach einem kritischen Leitartikel wird er festgenommen, enteignet und entgeht der Hinrichtung nur, weil er einen linientreuen Nachfolger einarbeiten soll.
Nachdem die Flucht der Familie Jessup nach Kanada scheitert, gibt er illegale Flugblätter heraus und ist Kontaktmann des Widerstandes. Natürlich fliegt er auf, wird gefoltert und am Ende in ein Konzentrationslager verschleppt.
Hier erlebt Jessup auch das Ende seines ehemaligen Gärtners Ledue: Der war zum Kreiskommissar aufgestiegen, doch am Ende war er für das Amt ungeeignet. Von seinen alten Saufkumpanen „angstvoll“ gemieden, den besseren Kreisen aber doch nicht zugehörig, stolpert er über eine Korruptions-Affäre und wird ebenfalls im Konzentrationslager interniert. Zwar erfährt er dort eine Sonderbehandlung, dennoch gelingt es den Gefangenen – die meisten hatte er als Kreiskommissars selbst hierher verschleppen lassen – seine Zelle in Brand zu setzen. Er verbrennt bei lebendigem Leib.
Die Tyrannei macht mit ihren Opfern hier weit mehr, als sie zu misshandeln, einzusperren und zu ermorden. Sie bewirkt bei ihnen eine totale Umkehrung aller Werte, die friedfertige und rechtschaffene Männer dazu bringt ihren Peiniger zu ermorden; und der Mord an Shad Ledue ist eben kein Tyrannenmord, denn der ehemalige Kreiskommisar ist inzwischen selbst ein Gefangener, der auf seine Verurteilung wartet.
Demokratie ist kein fester Besitz; in Lewis‘ Roman erleben wir, wie sie schwindet und verschwindet – und am Ende durch eine Diktatur ersetzt wird, weil die Menschen auf der Suche nach einer Alternative zur Demokratie einem Populisten gefolgt sind, der in Wahrheit ein Tyrann war. Windrips populären Versprechungen bilden die Grundlage seines Erfolges; in einer Demokratie kann ein Tyrann die Macht nur als Populist erringen – und das passiert nicht im luftleeren Raum. Ein Populist braucht ein politisches Klima, das sein Wachstum ermöglicht und fördert.
Dieses Klima findet Lewis in den USA der 30er Jahre – und es ist erstaunlich, wie sehr es dem Klima in den USA – und in anderen westlichen Demokratien – unserer Tage ähnelt: Wieder gibt es verlorene Frauen und Männer, die ihre Arbeit durch Globalisierung oder ihre Gesundheit durch auswärtige Kriege verloren haben. Die liberale Mitte der Gesellschaft hat sie längst abgeschrieben und meint: Wenn es ihnen nicht gelinge, sich selber aus dem Elend zu erlösen, haben sie dieses Elend nicht nur verdient, sondern es selbst gewählt.**
Deswegen folgen diese verlorenen Frauen und Männer auch einem Anführer wie Donald Trump; dessen wesentliches Talent ist es, das zu sagen, was sie hören wollen und was die liberalen Eliten am meisten ärgert. Wenn er ihnen schon nicht hilft, treibt er wenigstens ihre Gegner zur Weißglut.***
Was Trump selbst angeht, meine ich am 6. Januar seine Ambivalenz gegenüber seinen randalierenden Anhängern genau beobachtet zu haben: Einerseits Angst vor der Gewalt und auf der anderen Seite unbändiger Stolz darüber, wie weit seine Anhänger für ihn zu gehen bereit sind. Ich halte ihn für einen Zauberlehrling, der – um seinem übergroßen Ego zu schmeicheln – gewaltige Kräfte heraufbeschwört, deren Dynamik und eruptive Kraft er kaum versteht. Schon damit kann er der Demokratie beträchtlichen Schaden zufügen, wenn auch eher zufällig.
Ist es klug, darauf zu vertrauen, dass auf diesem Wege nur Zauberlehrlinge, aber keine echten Hexenmeister an die Macht kommen? – Lewis‘ Roman ermahnt uns eindringlich, dass dies ein Fehler wäre; denn damit überlassen wir den Fortbestand der Demokratie dem Zufall – und dafür ist die Demokratie zu wichtig, denn: „Im großen Ganzen, mit skandalösen Ausnahmen natürlich, hat die Demokratie dem normalen Arbeiter mehr Würde geschenkt, als er je besaß.“
Anmerkungen
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Tyler Merbler, 2021 storming of the United States Capitol 09, CC BY 2.0.
*) Im folgenden Text wird recht viel von den USA die Rede sein. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass vieles von dem was in dieser Besprechung geschrieben ist – mit der einen oder anderen Einschränkung – auch für jede andere westliche Demokratie gelten kann.
**) Diese Gedanken stammen aus Jackson Lears‘ unter dem Titel Orthodoxy of the Elites im New York Review of Books am 14.01.2021 erschienenen Besprechung des Buches Twilight of Democracy: The Seductive Lure of Autoritarianism von Anne Applebaum; bei dieser Besprechung handelt es sich nebenbei bemerkt um einen furiosen – und sehr lesenswerten – Verriss von Applebaum und ihrem Buch.
***) Was im Übrigen nicht bedeuten muss, dass hinter Trump nicht noch andere Interessengruppen stehen, die ihn unterstützen und ohne die er kaum erfolgreich gewesen wäre, wie z.B. Amerikas religiöse Rechte.