Pippi Langstrumpf
von Astrid Lindgren; aus dem Schwedischen übersetzt von Cäcilie Heinig
Verlag Friedrich Oetinger, 400 S., 17,00 €
Eigentlich ist Pippi Langstrumpf ein ziemlich normales Kind. Die Heldin aus Astrid Lindgrens drei Romanen Pippi Langstrumpf, Pippi Langstrumpf geht an Bord und Pippi Langstrumpf im Taka-Tuka-Land* hat nur früher als anderen Kinder gelernt, allein zurecht zu kommen. Sie braucht keine Erwachsenen, die ihr sagen, wann sie abends ins Bett gehen oder dass sie aufräumen soll.
Das wurmt die Erwachsenen in der kleinen Stadt, in der die Villa Kunterbunt steht, mächtig. Ein Kind, das nicht unter der Aufsicht von Erwachsenen steht: Das darf es nicht geben. – Und so versuchen sie im ersten Band, Pippi in ein Kinderheim zu verfrachten. Das geht schief, denn Pippi ist nicht nur kompetent; sie ist auch das stärkste Kind der Welt – und für die Polizisten ist es kein Vergnügen, mit ihr Fangen spielen zu müssen.
Das kann man als freches oder rebellisches Verhalten bezeichnen; oder man erkennt: Pippi will einfach nur selbst über ihr Leben bestimmen – und das heißt für sie: In Ruhe in der Villa Kunterbunt leben, mit ihrem Äffchen und ihrem Pferd. Später werden auch ihre Freunde Annika und Thomas ein klein wenig Freiheit einfordern: „Warum können wir nicht wenigstens zwei Tage in Ruhe gelassen werden?“
Und es funktioniert: Immer wenn die Kinder auf sich gestellt sind, gibt es keine Probleme: So endet der von Pippi für ihre Freunde organisierte „Schiffbruch“ nicht im Chaos, sondern wird ein wundervoller Camping-Ausflug in die unberührte Natur; und wen stört es schon, dass die Kinder mit fettigen Fingern in den Schlafsack kriechen?
Pippi ist eine Individualistin, die wenig von Konventionen hält. Gerade deswegen geht sie die Dinge meist sehr pragmatisch an. Gefragt, warum ihr Pferd auf der Veranda steht, antwortet Sie zum Beispiel: „In der Küche würde es nur im Weg stehen. Und im Wohnzimmer gefällt es ihm nicht.“
Das Besondere an Pippis Individualismus ist, dass er nicht egoistisch ist. Denn wo es zu helfen gilt, da ist sie zur Stelle und setzt ihre Kräfte und Fähigkeiten ein, um den Schwachen beizustehen: In einer waghalsigen Aktion rettet sie zwei Kinder aus einem brennenden Haus, verteidigt einen Jungen, der von fünf anderen angegriffen wird und bringt zwei Einbrechern „Schottisch tanzen“ bei.
Und wo es zu teilen gilt, da teilt sie: Zum Beispiel bei Ihrem Einkaufsbummel, bei dem sie die gekauften Süßigkeiten und Spielsachen unter die Kinder verteilt und kaum etwas für sich behält; und für ihre Gäste hat sie immer Süßes, Limonade und andere Leckereien bereit.**
Mit den Erwachsenen und ihren Konventionen kommt Pippi dagegen weniger gut klar: Denn sie ist durchaus nicht bereit, sich als Kind behandeln zu lassen, das „man sehen, aber nicht hören“ kann. Sie besteht darauf ernst genommen und gleichwürdig behandelt zu werden.
Als Frau Settergren – die Mutter von Annika und Thomas – sie zu einem Kaffeekränzchen einlädt, versucht Pippi sich unter die erwachsenen Gäste zu mischen. Das scheitert weniger an Pippis Benehmen – auch wenn ihre Tischsitten nicht den Vorstellungen der feinen Damen entsprechen – es scheitert daran, dass die Gäste sie nicht als Tischgenossin akzeptieren wollen.
Ähnlich ist es mit der Schule: Auch hier stößt sie sofort an Regeln, die Erwachsene gemacht haben, um Kinder zu disziplinieren und Macht über sie auszuüben. Sie versteht nicht, warum sie die Lehrerin nicht duzen darf, warum sie still sitzen und Fragen beantworten muss, deren Antwort die Lehrerin offensichtlich kennt. In solchen Situationen gibt Pippi oft falsche und provokativ klingende Antworten. Nach der Hauptstadt von Portugal gefragt, antwortet sie zum Beispiel: „Wenn es so verzweifelt wichtig für dich ist, zu wissen, wie die Hauptstadt von Portugal heißt, dann schreib doch direkt nach Portugal und frage!“ – Später stellt sich aber heraus: Sie war sogar schon in Lissabon.
Ich hatte einen Moment vermutet, dass es mit der „Plutimikation“ genauso ist – aber später schildert Lindgren: „Pippi konnte zwar nicht besonders gut rechnen, aber manchmal tat sie es doch.“ – Genau hier scheint Lindgren ein kleiner Denkfehler unterlaufen zu sein: Das Pippi nicht rechnen kann, scheint mir ein einigermaßen abwegiger Gedanke – und dass sie es nicht lernen will erst recht.
Immer wieder erzählt Pippi von Ihrem Aufwachsen auf der „Hoppetosse“ und Kapitän Langstrumpf sagt stolz über seine Tochter: „Ein besserer Seemann als meine Tochter ist niemals auf den sieben Weltmeeren gesegelt.“ – Nun besteht Seemannschaft aber nicht nur aus Knoten knüpfen und in der Takelage klettern; ihr Kernstück ist die Navigation: das tägliche Besteck, der Umgang mit Sextant und Karten waren seinerzeit ein wichtiger Teil der Bordroutine, zumal eines Kapitäns. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Pippi das in ihren Jahren an Bord nicht mitbekommen hat oder sich ausgerechnet für diesen Teil der Seemannschaft nicht interessiert. Und all diese Tätigkeiten setzen eine profunde Kenntnis der Mathematik, genauer der Geometrie, voraus. Für einen Navigator macht es einen erheblichen Unterschied, ob zwei mal drei vier ist oder sechs – unter Umständen den Unterschied zwischen sicher im Hafen liegen oder auf einem Riff stranden.
„Pippi benimmt sich nicht besonders fein, aber sie hat das Herz auf dem rechten Fleck,“ stellt Frau Settergren später fest – und im letzten Roman erlaubt sie ihren Kindern sogar mit Pippi auf die Südsee-Insel ihres Vaters zu reisen. Den besorgten Tanten aus der Stadt sagt sie: „Und so lange ich Pippi kenne, hat sie niemals etwas getan, was Thomas und Annika geschadet hat. Niemand ist liebevoller zu ihnen als sie.“ Als eine der wenigen Erwachsenen scheint Frau Settergren also die Pippi eigene Mischung aus Individualismus und Altruismus erkannt zu haben; und vertraut ihr nun sogar ihre beiden Kinder an.
Und trotzdem haben viele Erwachsene große Probleme, das zu erkennen: Für sie ist Pippi nicht ein Kind, das Selbstbestimmung und Gleichwürdigkeit einfordert, sondern eine freche Göre, die die Erwachsenen bewusst herausfordert und ihrem „kindlichen Egoismus“*** frönen will.
Auf der anderen Seite gibt es auch Erwachsene, deren Lebensmotto ist: „Sei Pippi, nicht Annika“ – und damit ist nicht etwa Pippis Eintreten für die Rechte von Kindern gemeint, sondern der Wunsch mancher Erwachsenen selbst so zu leben wie Pippi – als „Frei und unverbogen.“**** Sie verkennen nur ein Detail: Erwachsene haben all die Freiheiten, die Pippi für sich einfordert; sie müssen nur den Mut und die Stärke haben, sie auch einzulösen.
Für mich bedeutet „Pippi sein“ vor allem, auf radikale Weise man selbst zu sein – und insofern ist dieses Motto paradox: Denn Annika zum Beispiel ist genau dann am meisten Pippi, wenn sie am meisten Annika ist.
Deswegen ist es auch absurd, sich als Pippi zu verkleiden, um so für eigene Ziele zu werben. „Wie unpraktisch doch erwachsene Leute sein können,“ würde Pippi wahrscheinlich sagen: Warum verkleiden sie sich, wenn sie doch ihre eigenen Ziele verfolgen? – Da wäre es doch viel einfacher, sie würden sie selbst sein.
Wer Pippi sein will, der muss sich trauen, ohne vorgefertigte Schablone seinen eigenen Weg zu gehen – also einfach Thomas oder Annika oder Luisa oder Annalena oder Greta zu sein – und dabei trotzdem immer das Wohl der Anderen, vor allem der Schwächeren, im Blick haben, ja es wichtiger nehmen als das eigene.
Ungleichheit, Klimawandel und eine Pandemie – all diese Dinge lassen sich durch Egoismus nicht lösen. Deswegen bin ich überzeugt: Wir sollten mehr Pippilotta wagen!
Anmerkungen:
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Unknown photographer, Inger Nilsson as Pippi Långstrump, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
* Der Friedrich Oettinger Verlag liefert eine Reihe von Ausgaben, in Einzelbänden, in einem Band, mit farbigen, schwarz-weißen und den original schwedischen Illustrationen; der Text ist allerdings – von einigen Korrekturen abgesehen – immer derselbe.
** Es gilt zu bedenken: Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre waren Süßigkeiten und Spielzeug nicht so im Überfluss vorhanden wie heute.
*** Diese Schlussfolgerung stammt aus dem Artikel Lieber langweilig als Langstrumpf von Leonard Maximilian Schulz, veröffentlicht in der taz am 27.10.2020; den Link zum Artikel findest du [hier]. Bei mir hat der Artikel freilich den Eindruck hinterlassen, als beziehe Schulz sich in seiner Kritik mehr auf die (vom Übersetzer größtenteils neu erfundene) deutsche Fassung des Pippi Langstrumpf-Liedes und weniger auf Lindgrens Bücher. Allerdings steht er damit nicht allein.
**** Frei und unverbogen: Kinder ohne Druck begleiten und bedingungslos annehmen ist ein Buchtitel von Susanne Mierau.