Von hier an anders
von Robert Habeck
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 377 S., 22,00 €
Miteinander reden – ist nicht nur der Titel eines Klassikers der Kommunikationstheorie*, sondern auch der Leitsatz des Politikers Robert Habeck; unermüdlich reist er seit Jahren quer durchs Land, um „die Distanz zwischen den Typen, die man aus dem Fernsehen kennt, und denjenigen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, zu verringern.“ Ihm war es wichtig „nahbar zu sein“ und Begegnungen mit Menschen und ihren Hoffnungen, Nöten und Schicksalen zuzulassen.
Doch von einem Tag auf den anderen waren im März 2020 solche Begegnungen nicht mehr möglich. Habeck war gerade unterwegs – Kommunalwahlkampf in Bayern – als von einem Tag auf den anderen alle Veranstaltungen abgesagt werden mussten. Viel früher als geplant, fand er sich in einem ausgebuchten und gleichzeitig leeren Nachtzug auf dem Weg nach Norden – nach Hause und doch in eine andere Welt.
„Meine Form des Nachdenkens ist schreiben,“ bekannte Habeck in seinem ersten Buch Wer wagt, beginnt** – und daher ist es keine Überraschung, dass Habeck die folgenden, ruhigen Wochen ausführlich zur schreibenden Selbstvergewisserung genutzt hat.
Dabei geht er von einer Überlegung aus, die sich bereits am Ende seines Buches Wer wir sein könnten findet; nämlich der Feststellung, dass das Grundproblem jeder progressiven Politik ist: „Je mehr sie für die alten Werte der Moderne streitet, desto mehr Menschen lässt sie in ihren konkreten Lebensumständen allein.“
In seinem Buch Von hier an anders geht Habeck diesem Gedanken weiter nach und stellt dabei fest: Es sind gerade die Erfolge progressiver Politik, die bestimmte Menschen ausschließen. Er macht dabei drei zentrale Dynamiken aus, die die Fragmentierung der Gesellschaft vorantreiben: die Zunahme höherer Bildungsabschlüsse, die Verschärfung des Stadt-Land-Gegensatzes und kulturelle Faktoren bzw. diverse Identitäten; außerdem bietet er Ansätze für eine Lösung dieser Probleme an.
So führt Habeck aus, dass es die anderen Schulabschlüsse abwerte, wenn die Hälfte eines Schuljahrganges Abitur macht und viele von den Abiturient:innen dann noch studieren. Gerade hier zeigt sich, die Kehrseite wachsender Chancengleichheit; wenn die Chancen sich immer weiter angleichen, kann man zu dem Schluss gelangen: Wer seine Chancen nicht nutzt, ist selber schuld – und verdient weder Mitleid noch Hilfe. Es ist ein wenig schade, dass Habeck diese meritokratische Ideologie und ihren Beitrag zur Fragmentierung der Gesellschaft nicht deutlicher herausarbeitet; denn tatsächlich ist sie der giftige Stachel fast aller von Habeck beschriebenen Prozesse.
Eine andere Dynamik ist der Unterschied von Stadt und Land, genauer: von Regionen mit guten und schlechten Zukunftsaussichten; gerade in den letzteren haben populistische Parteien in der Vergangenheit ihre größten Erfolge errungen. Das mag daran liegen, dass sich in diesen Regionen ein Gefühl des Zurückgelassenseins entwickelt hat: Die Jungen wandern ab, Häuser stehen leer, die Infrastruktur verfällt.
Aber selbst in wohlhabenden Regionen herrscht eine massive Abstiegsangst: Viele Branchen sind durch die Globalisierung und den Klimawandel herausgefordert oder gefährdet – und niemand kann garantieren, dass zum Beispiel die gut bezahlte Stellen in der Automobilindustrie noch zukunftssicher ist.
Gleichzeitig ändert sich das kulturelle Paradigma*** unserer Gesellschaft; nicht mehr die Anerkennung der individuellen Leistung steht im Mittelpunkt, sondern diejenige für das jeweilige Lebensmodell. Die Kommunikation zwischen den Anhängern der beiden Paradigmata ist mühsam – und setzt auf jeden Fall wechselseitigen Respekt voraus. Für Habeck bedeutet das: Die Lebensleistung und das Lebensmodell des Gegenüber anzuerkennen.
Natürlich ist zum Beispiel die (Braun-)Kohle ein Klimakiller. Gleichzeitig war sie aber über Jahrhunderte ein wichtiger Energieträger, der „das industrielle Herz Deutschlands“ schlagen ließ. Nur wenn man diese Leistung mehrerer Generationen anerkennt wird man mit den Menschen überhaupt ins Gespräch kommen; und dasselbe gilt für Landwirt:innen, Industriearbeiter:innen und viele andere.
Und dass ist dringend notwendig, denn der vielleicht größte Erfolg progressiver Politik besteht darin, dass ihre Anliegen und Projekte inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Klimaschutz, Diversifizierung von Lebensmodellen und Einwanderungspolitik sind inzwischen Themen hinter denen sich breite gesellschaftliche Gruppen, oft Mehrheiten, versammeln können; genau deswegen fallen die Attacken der Gegner auch oftmals so giftig aus. Die progressiven Politiker – und das sind für Habeck im Kern: die grünen Politiker – sollten sich das immer wieder klar machen.
Und das hat massive Konsequenzen für deren Selbstverständnis: Es geht nicht mehr in erster Linie darum als Vorreiter neue Ideen in die politische Arena zu bringen. Sondern die Grünen müssen als Kraft aus der Mitte der Gesellschaft heraus wirken und die politischen Mehrheiten für ihre Anliegen organisieren. Habeck wünscht sicheine politische Mitte, die bereit ist die Interessen aller zu berücksichtigen und so „das neue Herz einer pulsierenden Demokratie“ werden kann.
Ein anderes Problem ist für Habeck unser Wirtschaftssystem: Der Kapitalismus befindet sich in einer Phase, in der seine „ökologischen Erfolge gerade dabei sind, zu gesellschaftlichen Misserfolgen zu werden.“
Gerade die Pandemie hat gezeigt, dass es nicht zwingend ist, dass die Mehrung von Wohlstand immer das oberste Prinzip der Wirtschaftsordnung sein muss, sondern dass zum Beispiel Gesundheit es auch sein kann – und in Zukunft vielleicht der Klimaschutz sein könnte; wobei Habeck zu bedenken gibt: „Wir schützen ausschließlich das Klima, um ein Leben in Freiheit und Würde zu ermöglichen.“
Und es ist Aufgabe der Politik, der Wirtschaft Regeln zu geben. „Märkte brauchen Regeln,“ denn sie sind „kein Dschungel“, sondern „menschengemachte Gärten.“
Deswegen muss die Politik Anreize für den schonenden Umgang mit Ressourcen setzen, zum Beispiel einen angemessenen CO2-Preis, und geschlossene Stoffkreisläufe fördern, die möglichst wenig oder gar keine neuenRessourcen verbrauchen – und natürlich müssen besonders schädliche Praktiken verboten werden.
Wie spätere Generationen von Wirtschaftswissenschaftlern eine solche Wirtschaftsordnung bezeichnen werden, ob sie sie noch Kapitalismus nennen werden, spielt dagegen für Habeck keine Rolle. Er weist – in Anlehnung an Ulrike Herrmann – darauf hin, dass auch der Kapitalismus „nicht am Reißbrett erfunden oder durch politischen Beschluss herbeigeführt wurde,“ sondern entstand, nachdem im 18. Jahrhundert einige Tüftler einen dampfgetriebenen Webstuhl (genannt: „Spinning Jenny“) erfunden hatten – und das ist eine starke Idee: Wir brauchen kein ausgefeiltes System, um den Kapitalismus zu ersetzen. Es reicht vollkommen aus die notwendigen Reformen vorzunehmen – und in einigen Jahrzehnten wird sich vielleicht herausstellen, dass eine dieser Reformen derAusgangspunkt einer ganz neuen Wirtschaftsordnung war.
Für Habeck ist es wichtig, dass solche Umbrüche nicht aufgehalten werden können. Es ist die Aufgabe der Politik, das Neue zu gestalten – und dafür braucht sie ein neues Verständnis von Macht.
Denn Politik muss Macht zurückgewinnen – gerade von der Wirtschaft. Habeck weist darauf hin, dass die Annahme, wenn Macht nicht vom Staat ausgeübt wird, eben nicht bedeutet, dass die Macht von niemandem ausgeübt wird, sondern nur, dass sie von jemand anderem ausgeübt wird.****
Für Habeck ist die Macht, Entscheidungen über Menschen zu treffen beim Staat am besten aufgehoben, jedenfalls besser als bei profitorientierten Unternehmen. Denn für Habeck ist der Staat, unser Staat, ein Zusammenschluss gleichberechtigter Bürger, also etwas wie eine Genossenschaft; schon in Wer wagt, beginnt schrieb er: „Es ist ja gerade der Sinn eines demokratischen Staates, dass wir auf ihn Verantwortung delegieren, um es besser hinzukriegen, als wir es allein könnten“ – oder wie Habeck es nun formuliert: „Das Gemeinsame steht im Dienst des Einzelnen.“
Deswegen könne man Verantwortung beim Staat abladen; denn Regeln haben auch eine entlastende Funktion, weil sie uns Entscheidungen abnehmen – und es sind im Alltag immer noch genug Entscheidungen zu treffen, auchwenn man sich an der Kasse nicht für oder gegen eine Plastiktüte entscheiden muss.
Das bedeutet aber nicht, dass der Staat über den Lebensstil des Einzelnen entscheiden dürfte. Natürlich soll jeder so viel Fleisch essen, wie er möchte. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass bei der Fleischproduktion dem Tierwohl Rechnung getragen wird.
Natürlich können wir die Macht des Staates nur ausweiten, wenn dabei möglichst viele Menschen mitziehen. Denn Macht bedeutet, wenn sie nicht zur Gewalt werden soll, das sich die Menschen ihr freiwillig unterwerfen.
Das wird aber nur dann funktionieren, wenn Macht dialogisch ausgeübt wird. Habeck sieht es als die Aufgabe der Politik an, mehr als eine Mehrheitsentscheidung herbeizuführen. Vielmehr habe sie dafür zu sorgen, dass „man also grundsätzlich bereit ist, Konflikte auf einer gemeinsamen Grundlage auszuhandeln und am Ende sagen kann, dass es fair zugegangen ist.“ Habeck nennt dieses Konzept – nach Hannah Ahrendt – „Einvernehmen.“
Das setzt dann eben auch voraus, dass man Entscheidungen mit trägt, die gegen die eigenen Interessen oder gegen einen persönlich ausgefallen sind. Vor diesem Hintergrund muss man vielleicht auch Habecks Verzicht auf eine Bewerbung um die Kanzlerkandidatur der Grünen sehen. Obwohl er nichts mehr wollte, „als dieser Republik als Kanzler zu dienen,“***** stellte er dennoch seine persönlichen Ambitionen zurück – einfach weil er und Annalena Baerbock offenbar ein Verfahren gefunden haben, das beide für fair halten.
Um auch in einer ganzen Gesellschaft solche Lösungen finden zu können, schlägt Habeck die Einführung von „Bürgerräten“ vor. Das sind Gremien aus einer bestimmten Zahl zufällig geloster Bürger, die die Aufgabe haben, die Politik zu einem bestimmten Thema zu beraten und ihr einen Entscheidungsvorschlag zu machen.
Die Vorteile dieses Verfahrens liegen auf der Hand: Ist so ein Bürgerrat groß genug, so werden darin die meistenInteressen zur Sprache kommen und viele Argumente abgehandelt.
Dass die Arbeit in solchen Gremien nicht einfach sein wird, dass es auch dort lautere und leisere Stimmen geben wird, liegt auf der Hand. Aber die Gestaltung der Zukunft ist niemals einfach: Denn „die Zukunft ist nichts […], was irgendwie auf uns zukommt. Sondern etwas das hergestellt und gewonnen werden will.“
Anmerkungen:
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Hans Peter Feddersen artist QS:P170,Q1490386, Feddersen Hans Peter Museumsberg Flensburg Hans-Christansen-Haus Dorf, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
* Gemeint ist das Buch bzw. die Bücher Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen, Miteinander reden 2 – Stile Werte und Persönlichkeitsentwicklung und Miteinander reden 3 – Das „Innere Team“ und situationsgerechte Kommunikation von Friedemann Schulz von Thun.
** Es ist eigentlich falsch, Wer wagt beginnt als Habecks erstes Buch zu bezeichnen, es ist sein erstes politisches Buch. Da sein Beruf zuvor Schriftsteller ist er Autor einiger Romane und andere fiktionaler Werke. In dieser Diktion ist Wer wir sein könnten sein zweites Buch.
*** Habeck verwendet den Begriff „Paradigma“ und bezieht sich dabei ausdrücklich auf den Thomas S. Kuhn und sein Standardwerk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen – allerdings beschrieb Kuhn Revolutionen des Paradigmas einer (Natur-)Wissenschaft bzw. ihres Weltbildes. Wenn Habeck den Kuhn’schen Begriff hier auf gesellschaftliche Paradigmata anwendet so ist das zwar nicht falsch, aber ein Hinweis auf diese Abweichung hätte ich mir schon gewünscht.
**** Hier musste ich an Paul Watzlawick denken; in Anlehnung an ihn könnte man auch sagen: „Man kann nicht nicht entscheiden.“
***** vgl. „Der Tag war ein bittersüßer“, Interview mit Robert Habeck, in: Die Zeit vom 22.04.2021.