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Literatur & Kultur

Don Quijote im wilden Westen

Winnetou I – III 
von Karl May
Karl May-Verlag, 556 S./542 S./574 S., je 24,00 €

Als im Jahr 1893 die Winnetou-Trilogie erschien, befand sich der Schriftsteller Karl May im Aufwind: Vom Hochstapler und Kleinkriminellen zum Redakteur und Schreiber von Kolportage-Romanen stieg er in den 1890er Jahren zum beliebten und viel gelesenen Autoren von Reiseerzählungen auf.
Ganz wesentlich zu diesem Aufstieg beigetragen hat der Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld, der ab 1892 die Reihe Karl May’s Gesammelten Reiseerzählungen herausbrachte, in der auch die Winnetou-Trilogie erschien (als Bände 7 bis 9) und die die Keimzelle der bis heute auf über 90 Bände angewachsenen Gesammelten Werke und Briefe ist.
Doch May wollte mehr als nur Schriftsteller sein – nämlich der „Lehrer seiner Leser.“ Daher begann er an der Legende zu stricken, dass er Old Shatterhand (bzw. Kara Ben Nemsi) sei und dessen Abenteuer selbst erlebt habe. May wird in den 1890er Jahren einen erheblichen Aufwand um diese Mystifikation seiner Person und die Irreführung seiner Leser:innen betreiben und sich zum Beispiel einen Bärentöter, einen Henry-Stutzen und die Silberbüchse anfertigen lassen.
Um so erstaunlicher ist es, dass Karl May in Winnetou I – entstanden kurz vor seiner Veröffentlichung 1893 – die Figur Sam Hawkins hineingeschrieben hat. Denn Sam nennt seinen Freund und Schüler Old Shatterhand ein ums andere Mal ein „Greenhorn“ – einmal mit dem Zusatz: „Werdet es ewig bleiben!“
An Old Shatterhand gerichtet ist dieser Vorwurf natürlich falsch – und das weiß Sam auch sehr gut. Als er seinen Schüler einmal abwesend wähnt, sagt er selber über ihn: „Es wird ein tüchtiger Westmann aus ihm werden,“ denn „er ist dazu geboren, wahrhaftig dazu geboren.“
Außerdem hat Old Shatterhand einiges über den Westen im Allgemeinen und die Fähigkeiten, die ein Westmann braucht im Besonderen, gelesen – seine Meinung ist: „Man kann wirklich viel [aus Büchern] lernen und es dann in der Wirklichkeit für andere Fälle anwenden.“
Sam bleibt skeptisch: „Möchte wissen, ob die guten Leute, die solche Sachen schreiben, wirklich einmal über den Mississippi herübergekommen sind.“ – Als ob er ahnt, dass der Autor seiner Geschichte nicht Old Shatterhand ist, sondern Karl May, ein Greenhorn, das wirklich nie jenseits des Mississippi, ja nicht einmal jenseits des Atlantik war, das sich sein ganzes Wissen über den Westen angelesen hat – und sich hier selbst ein wenig auf die Schippe zu nehmen scheint.*

Die Neigung, andere Menschen über seine eigene Person in die Irre zu führen, teilt May mit seinem literarischen Alter Ego Old Shatterhand, der gleich im zweiten Band dem Leser eine Kostprobe davon gibt: Sein neuer Reisegefährte Old Death erfährt erst nach vielen gemeinsam bestandenen Abenteuern, dass das vermeintliche Greenhorn aus Deutschland in Wahrheit ein (mindestens) ebenso bekannter Westmann ist, wie er selbst.**
Hier allerdings macht May aus der Not eine Tugend: Denn tatsächlich ist dieses Versteckspiel Old Shatterhands zwar sehr passend, aber es war auch aus einem anderen Grund erforderlich: Der erste Teil von Winnetou II ist eine überarbeitete Fassung vom Mays Erzählung Der Scout, in der die Hauptfigur nicht Old Shatterhand war, sondern ein Greenhorn aus New York; durch diesen Kunstgriff kam May mit viel geringeren Eingriffen in die Geschichte aus, als sonst erforderlich gewesen wären.
Die zweite Hälfte von Winnetou II bildet die (ebenfalls überarbeitete) Erzählung Im fernen Westen – und Winnetou III ist auf dieselbe Art aus den Erzählungen Deadly Dust und Im ‚wilden Westen’ Nordamerika‘s entstanden.
Daher wechseln auch die Reisebegleiter Old Shatterhands: Nur in der zweiten Hälfte von Winnetou II taucht nochmal Sam Hawkens auf. Er wird ersetzt, erst durch Old Death und im dritten Band dann durch Sans-ear und Spürauge. Diese Figuren sind jeweils recht ähnlich konstruiert: Sie wurden durch eine Schuld (Old Death) oder eine Rache (Sans-ear) in den Westen getrieben – und am Ende der jeweiligen Erzählung können sie diese Schuld begleichen oder die Rache vollziehen.
Noch einfacher konstruiert May die wirklichen Nebenfiguren; ihre Eigenschaften reichen oft kaum über Stereotype hinaus; so finden sich Beschreibungen wie „ein Blick dieses Mannes verriet den Spanier,“ „der Mann hatte ein echtes, verkniffenes Yankeegesicht“ und natürlich sind alle Deutschen denen er begegnet ehrlich, fleißig und treu.***
Spannender als die Tatsache, dass May zu solchen Stereotypen greift – sie mögen nationalistisch sein, manchmal auch rassistisch – ist die Art ihrer Verwendung: May scheint durch sie vor allem Zeit sparen zu wollen.
Werden Figuren bedeutsamer, haben sie auch einen eigenen Charakter, der – je nach ihrer Bedeutung für die Geschichte – von den verwendeten Klischees mehr oder weniger stark abweicht.
Da es Mays christlicher Überzeugung entspricht, dass Menschen stets die gleiche Würde und die gleichen Rechte haben, tritt Old Shatterhand auch stets für Fairness ein – als er zum Beispiel einen Bären erlegt, wird der zwischen allen Reisegenossen geteilt und auch der schwarze Diener Cäsar bekommt den gleichen Anteil wie alle anderen.

Dieser Sinn für Menschenwürde und Fairness ist es auch der Mays Winnetou-Trilogie von einer herkömmlichen Wildwest-Erzählung unterscheidet; denn der klassische Western ist die Neuinszenierung des Amerikanischen Mythos: des Kampfes einiger verwegener Siedler:innen gegen die Unbilden der Natur, gegen wilde Tiere und gegen die ‚Indianer‘.
Zwar ist Old Shatterhand zunächst als Vermesser beim Eisenbahnbau tätig, aber schnell erkennt er: Der Eisenbahnbau ist unrecht; denn er geht durch das Gebiet der Apachen, ohne dass diese um Erlaubnis gefragt oder gar entschädigt worden sind.
Später – im zweiten Band – werden Winnetou und Old Shatterhand einigen Siedler:innen zeigen, wie es richtig geht: Zwar schützen sie sie vor einem tödlichen Überfall der Orkandas – allerdings erkennen sie das Verlangen des Häuptlings, dass die Siedler:innen seinem Stamm entweder das Land abkaufen oder aber es zu verlassen haben als berechtigt an – auch wenn es der seinerzeit geltenden Rechtslage widerspricht.
Old Shatterhand merkt an: „Was würde man in Illinois oder Vermont sagen, wenn dort ein Sioux-Indianer auftauchte, sich mit seiner Familie dort niederließe, wo es ihm gefiele, und nun behauptete: ‚Das ist mein!‘“
Damit verwirft er den Grundgedanken der Manifest Destiny, der Mission der amerikanischen Westausdehnung, ja des ganzen Unternehmens, den neuen Kontinent zu besiedeln: den Glauben, dass die Siedler:innen auserwählt sind, den ganzen Kontinent zu besiedeln und zu besitzen.****
Denn Old Shatterhand ist der Meinung, dass die indigenen Völker die Chance verdient haben, sich selbst weiter zu entwickeln, denn „jedenfalls hat noch niemand den Beweis dafür angetreten, dass sich die Indianer geistig nicht entwickeln können. Wenn man Ihnen nicht die Zeit und den Raum dazu gönnt, müssen sie verkommen und untergehen.“

Ein Beispiel für die Möglichkeit einer solchen Entwicklung ist Winnetou, der von seinem weißen Lehrer Klekih-petra viel über die Kultur und Gebräuche der Weißen gelernt hat – und an der Schwelle zu einer neuen Entwicklungsstufe zu stehen scheint.
Allerdings ist diese Entwicklung bei genauerem Hinsehen – das tut auch Old Shatterhand übrigens nicht – wenig nachhaltig; es ist die Entwicklung des Fürsten Winnetou. Seine Untergebenen haben damit wenig zu tun. Zwar ziehen sie aus ihren Zelten in einen verlassenen Pueblo, aber eine große Bewegung zur Entwicklung seiner Apachen unternimmt Winnetou trotzdem nicht.
Deswegen stirbt am Ende dieser Weg mit Winnetou; stattdessen wird sich der Kampf der weißen Siedler:innen gegen die indigenen Völker fortsetzen.
Ein bisschen problematisch ist Mays Glaube, dass „der Indianer nur durch die Bleichgesichter das wurde, was er heute ist.“ – Denn so ist im Ergebnis die treibende Kraft hinter jedem bösen Plan ein Weißer und die Ureinwohner rücken oft in die Rolle der zwar grundsätzlich anständigen, aber verführten Mittäter. Das ist auf die Dauer ein wenig einseitig – zumal die Siedler:innen ja auch ohne direkt böse Pläne zu schmieden für das Schicksal der indigenen Bevölkerung verantwortlich sind; denn mit ihrer Gier nach neuem Land zerstören sie deren Lebensgrundlage.
Der Meister in dieser Disziplin ist natürlich der Erzschurke Santer: Dreimal taucht er in der Trilogie auf und immer gelingt es ihm, Winnetou und Old Shatterhand zu übertölpeln. Ebenbürtig an Fähigkeiten wird wenigstens ihm am Ende seine Gier zum Verhängnis.
Aber genau diese Gier ist es, die die Menschen, die ihr verfallen sind, immer wieder zu scheußlichen Taten treibt: May weiß, dass am Ende die indigenen Völker nicht überleben werden.
Und so reitet Old Shatterhand wie ein Don Quijote im Wilden Westen durch eine Welt, „deren höchstentwickelte Wesen sich mit der Waffe in der Hand gegenüberstehen und einander das Recht zum Leben streitig machen.“

Anmerkungen:

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: John Gast, American Progress (John Gast painting), als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

* Womit May dem Durschnitts-Greenhorn noch um einen Schritt voraus zu sein scheint, denn „es ist eben die hervorragendste Eigentümlichkeit jedes Greenhorns, eher alle anderen Menschen, aber nur nicht sich selbst für ‚grün‘ zu halten.“ – Davon abgesehen liefert May hier eine gänzlich unpathologische, dafür aber amüsanten Beschreibung des Dunning-Kruger-Effektes.

** Bei Spüraugen in Band III währt dieses Spielchen etwas kürzer, aber es scheint auch durch mehrfache Wiederholung seinen Reiz für Old Shatterhand und seinen Autor nicht zu verlieren.

*** Übrigens habe ich herzlich bei folgendem Klischee gelacht: „Jeder Mensch ist zuweilen ein recht sonderbarer Kauz, zumal, wenn er ein Deutscher ist.“

**** Bis heute feiern die Amerikaner an Thanksgiving nicht nur die erste Ernte in der neuen Welt – eine weitere Tatsache für die es seinerzeit dankbar zu sein galt war eine furchtbare Seuche die die indigene Bevölkerung dezimierte, die Siedler:innen aber wundersamerweise verschonte und es Ihnen ermöglichte die nunmehr brach liegenden Felder der Ureinwohner:innen zu übernehmen. Auch dies galt als Zeichen dafür, dass Gottes Segen über der Unternehmung der Siedler lag (vgl. Pranksters and Puritans von Christopher Benfey, New York Review of Books, Nr. 3/2021 [Link])