Kategorien
Gesellschaft & Politik

„Ein Blatt der Scheinheiligkeiten“

Ohne Rücksicht auf Verluste – Wie BILD mit Angst und Hass die Gesellschaft spaltet
von Mats Schönauer und Moritz Tschermak, mit einem Nachwort von Kevin Kühnert
Kiepenheuer & Witsch, 334 S., 18,00 €

Zeitungsmeldungen können, wenn sie sorgfältig recherchiert und geschrieben sind, die erste Rohfassung der Geschichte sein. Sie können aber auch schon morgen wieder vergessen sein, vor allem wenn sie mit (bestenfalls) schmaler Faktengrundlage lediglich dazu geschrieben wurden, die Emotionen der Leser:innen zu wecken. Dann nämlich muss täglich eine neue Sau durchs Dorf getrieben werden, denn „am nächsten Tag wickelt jemand mit dem ganzen Mist eine tote Makrele ein.“*
Die Bild gehört zur zweiten Kategorie; ihre Geschichten werden „auf einen funktionalen Code reduziert: die Erregung von Emotionen.“ In ihrem Buch  Ohne Rücksicht auf Verluste – Wie die BILD mit Angst und Hass unsere Gesellschaft spaltet zeigen die Journalisten Mats Schönauer und Moritz Tschermak, wie Bild dabei vorgeht.
Anders als viele andere Kritiker der Bild verfügen die beiden über einige Erfahrungen mit dem Blatt: Sie lesen die Bild täglich – und schreiben über das Blatt und seine Art der Berichterstattung regelmäßig für das Bild-Blog. Dabei stellen Sie immer wieder schlecht recherchierte Geschichten richtig, korrigieren verzerrte Darstellungen und weisen auf (oft eklatante) Verletzungen der Privatsphäre von zum Beispiel Prominenten oder Opfern von Straftaten und Unglücksfällen hin.
„Seit Reichelt Bild-Chefredakteur ist, hat sich der Kurs des Blattes verändert.“ Standen bei der Bild Zeitung zuvor vor allem bunte Themen, Berichte über Prominente und Unglücksfälle im Vordergrund, ist das Blatt unter Reichelt wieder politischer geworden – und aggressiver: „Reichelts Bild zufolge herrscht ständig Chaos und Angst in Deutschland.“**
Diese Radikalisierung in der Berichterstattung wird begünstigt durch das Klima in der Redaktion: Straff von oben gelenkt müssen die Mitarbeiter:innen ihren Vorgesetzten gefallen; „dieses Gefallenmüssen oder Gefallenwollen sei eine der Quellen für verzerrte Berichterstattung.“
Das alles kommt demjenigen bekannt vor, der Günther Wallraffs Klassiker Der Aufmacher – Der Mann, der bei BILD Hans Esser war gelesen hat; detailliert und aus eigener Anschauung beschreibt Wallraff, wie bei der Bild Geschichten entstehen, verfälscht und – schlimmstenfalls – von jeder weiteren Instanz zugespitzt werden, so dass sie am Ende nur noch wenig mit dem ursprünglichen Text des Redakteurs zu tun haben: „Die Information wird verdrängt; es zählt nur noch die Emotion.“

Ein Weg, um die Emotionen der Leser:innen zu wecken, ist das Konstruieren und Verstärken von Feindbildern.
Ausländer, Migration und Islam zum Beispiel sind ein wiederkehrendes Feindbild: Die Bild versucht mit allen Mitteln der Integration von Migrant:innen und ihren Nachfahren als Gescheitert zu diffamieren. Noch heute nennt die Bild die angeblichen Nationalitäten von Angeklagten – selbst wenn sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. 
Passenderweise hat die Bild im Jahr 2010 auch Passagen aus Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab vorab gedruckt und damit den Hype um jenen Autor verstärkt – und im Jahr 2015 beschwor Bild sprachliche Bilder herauf, „die die Flüchtlinge nicht etwa als hilfsbedürftige Einzelpersonen erscheinen ließen, sondern vielmehr als Naturgewalt, die drohe, das Land zu überfluten.“
So hat Bild über die Jahre rechte Thesen salonfähig gemacht und damit den Aufstieg der AfD und anderer rechter Parteien begünstigt – was die Bild aber nicht davon abhält, den Aufstieg der rechtsextremen Parteien als erschreckend zu bezeichnen und sich die Frage zu stellen: Wie konnte es nur dazu kommen? – Eine Frage, die die Bild ohne gehörige Selbstreflexion nicht befriedigend beantworten wird.
Ähnlich geht die Bild mit der Justiz um: Immer wieder werden Strafurteile – die ja stets eine differenzierte Abwägung zur Schuld des Täters enthalten – vereinfacht und skandalisiert. Tenor der Bericherstattung: Die Justiz urteilt viel zu mild!
Die Kombination der beiden Feindbilder ergibt dann die Wendung vom „Islam-Bonus“, der dazu führe, dass die Täter zum Beispiel bei „Ehrenmorden“ milder bestraft werden, als vergleichbare Täter ohne diesen kulturellen Hintergrund; was übrigens nicht stimmt: „Ehrenmörder“ werden eher strenger bestraft.
Über einen anderen – tatsächlich und zu Recht existierenden – Strafnachlass berichtet die Bild dagegen nicht: Man könnte ihn den Bild-Nachlass nennen. Da bei der Strafzumessung auch die Folgen der Tat zu berücksichtigen sind, kann eine vorverurteilende Berichterstattung, die dem Täter die Fortführung oder Wiederaufnahme seines bürgerlichen Lebens erschwert oder unmöglich macht, zu einer deutlichen Strafmilderung führen.
Anders geht die Bild nur bei den eigenen Angehörigen vor: Dort wird penibel darauf geachtet, dass die Unschuldsvermutung gilt.***
Ein anderes wohl gepflegtes Feindbild sind Hartz IV-Empfänger; hier tut die Bild das, was sie bei der Berichterstattung über Promis und Superreiche vermeidet: Sie zettelt eine Neiddebatte an.
Denn Bild zeigt, wie Hartz IV-Empfänger es sich in der sozialen Hängematte gemütlich machen, während hart arbeitende Bild-Leser:innen dieses Leben durch ihre Steuern finanzieren. Auch hier zeigt sich „die Macht von Bild: Die Realität in Versatzstücke zu zerlegen und neu arrangiert zu einer gefühlten Wahrheit werden zu lassen.“
Andere Themen werden oft so dargestellt, als wären sie gefährliche Ideologien: „Bild lässt es so aussehen, als hätten Befürworter von Tempolimit und Diesel-Fahrverboten nicht etwa ernstzunehmende Einwände, sondern vielmehr wahnhafte Verbotsfantasien.“
Auch wenn die von Bild aufgebauten Feindbilder bei näherem Hinsehen Pappkameraden sind. Eine Wirkung haben sie doch: Sie schaden dem gesellschaftlichen Klima, denn ein ernsthafter Dialog ist mit diesen Feinbildern gar nicht möglich

Umgekehrt hat die Bild auch Freunde, die sie hofiert: So ist das politische Comeback von Friedrich Merz auch der Bild geschuldet. „In jedem noch so kleinen Winkel der Zeitung findet die Redaktion einen Weg, um Merz ins Spiel zu bringen.“ Ähnlich ergeht es Verkehrsminister Andreas Scheuer, dessen Fehler den Steuerzahler mindestens einen dreistelligen Millionenbetrag gekostet haben, und Lothar Matthäus, den die Bild lange Zeit für jeden frei werdenden Trainerposten vorgeschlagen hatte.
Diese Art der Berichterstattung legt die Vermutung nah: Bild will nicht nur über Ereignisse berichten, sie will auch mitmischen und die Gesellschaft nach ihrem Bild umformen.
Die Bild sei „das wichtigste Sprachrohr gegen jegliche gesellschaftliche Liberalisierung“, konstatierte schon Günter Wallraff; daran hat sich im Grunde nur wenig geändert. Noch immer versucht die Bild konservative Werte durchzusetzen; allerdings hat sich der Konservativismus der Bild radikalisiert: Inzwischen geht es nicht nur darum, das Bestehende zu erhalten, sondern oft genug darum, die Uhr des Fortschritts zurückzudrehen.

Ein anderer Weg, um Emotionen zu wecken ist die Berichterstattung über menschliche Schicksale – ganz gleich, ob Prominente oder Normalverbraucher: Wenn man Opfer eines Unglücks oder Verbrechens wird, wird man zusätzlich noch Opfer der Bild: Das Blatt zerrt diese, ihre Angehörigen und ihr Schicksal ins grelle Licht der Öffentlichkeit – ganz gleich, ob sie das wollen oder nicht.****
Dabei macht das Blatt vor dubiosen Methoden nicht halt: Schönauer und Tschermak erzählen ein Beispiel, in dem der Reporter den Angehörigen die Todesbotschaft noch vor der Polizei überbrachte, ohne psychologische Begleitung oder Seelsorge, einzig und allein zu dem Zweck, ein Foto zu bekommen. Gern wird gedroht: Sonst nehme man halt das Bild der Leiche – das sei halt nicht so schön.
Ist diese, zynisch als „Witwenschütteln“ bezeichnete, Praxis nicht erfolgreich gibt es andere Methoden: Social Media Accounts können ausgenommen werden oder es können Freunde oder Angehörige belästigt werden.
Echtes Mitgefühl gibt es nur mit Tieren, „insbesondere vereinsamten oder im Stich gelassenen.“ Schon Wallraff ergänzte diese Beobachtung mit der Feststellung „Liebe kann nur dem Tier gelten, wenn der Mensch systematisch herabgewürdigt wird.“*****
Trotz dieses Mangels an echtem Mitgefühl, dem geringen Informationsgehalt und den brutalen Methoden von Bild findet das Blatt noch immer seine Leser; nach wie vor werden mehr als eine Million Exemplare des Blattes verkauft und auch online hat Bild.de Millionen Zugriffe jeden Tag.
Das liegt nicht nur dran, dass Bild nicht nur auf der Klaviatur der Emotionen ihrer Leser:innen meisterhaft zu spielen vermag, sondern auch daran, dass Bild sich immer wieder als Helfer in der Not in Szene zu setzen weiß.
Bild Leser:innen sind meistens männlich und haben eine eher geringe formale Bildung – und so hat auch die Berichterstattung über Frauen immer einen sexistischen Unterton. Bei Sportlerinnen, Künstlerinnen und sogar bei Täterinnen von Verbrechen geht es oft nicht „um ihre Taten und Leistungen, ihre Motive oder Gedanken“, sondern vor allem um „Aussehen, Liebesleben, Sex.“
Der Sportteil übrigens hebt sich nicht positiv vom Rest des Blattes ab: „Es erscheinen dort genauso Falschmeldungen und Erfundenes, dort werden genauso Menschen vorgeführt.“ – Vielleicht fällt es hier nur weniger auf, weil der Ton bei der Sportberichterstattung generell brachialer ist.
„Warum Bild das tut, was sie tut“ fragt Kevin Kühnert in seinem Nachwort; seine Antwort ist einfach: „Weil Bild das kann. Und weil sie es will.“ Und Schönauer und Tschermak ergänzen das mit einem Zitat aus dem Film The Dark Knight: „Einige Menschen wollen die Welt einfach nur brennen sehen.“

Anmerkungen:

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: L. M. Glackens creator QS:P170,Q6687255, The Yellow Press by L.M. Glackens, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

* Dieses Zitat stammt aus dem Film Extrablatt von Billy Wilder; allerdings halte ich es für wenig empfehlenswert, eine Makrele in eine Bild-Ausgabe einzuschlagen; sie dürfte danach nicht mehr genießbar sein.

** Das kann übrigens durchaus das Ergebnis einer kognitiven Verzerrung sein, der Journalisten besonders stark unterliegen: Sie nehmen die Welt viel negativer wahr, als sie in Wahrheit ist. Eine Analyse dieses Phänomens, aber auch eine Gegenmedizin bietet zum Beispiel Maren Urner in ihrem Buch Schluss mit dem täglichen Weltuntergang; besprochen in diesem Blog am 15.01.2021. Zu dieser Besprechung geht er [hier].

*** Immerhin hat diese Scheinheiligkeit den Vorteil, dass für die Bild-Mitarbeiter kein Bild-Nachlass zu erwarten ist.

**** Das gilt natürlich nicht, wenn es um die Bild selber geht: Sie will zwar alles wissen und publiziert das auch, aber an Transparenz ist man eher weniger interessiert. Zum Beispiel veröffentlich Bild regelmäßig die Gehälter von Top-Managern und Politiker; das Gehalt von Chefredakteur Reichelt dagegen ist ein wohl gehütetes Geheimnis.

***** Und so berichtet Bild zum Beispiel zuckersüß über einen depressiven Hund und sein hingebungsvolles Frauchen; nicht umsonst schrieb der heutige Chefredakteur Reichelt früher eine Kolumne mit dem Titel „Reichelt streichelt.“