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„Sortiermaschinen einer globalisierten Welt“

Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert
von Steffen Mau
Verlag C.H. Beck, 189 S., 14,95 €

„Bei den Grenzen von heute geht es kaum noch um staatliche Selbstbehauptung gegenüber rivalisierenden Nachbarstaaten.“ Der Gedanke, dass ein Staat ein ihm zugewiesenes Territorium hat, hat sich in Europa spätestens seit dem Westfälischen Frieden etabliert und wurde seither erfolgreich in die ganze Welt exportiert.*
Zwar war die Frage, wo (genau) eine Grenze verläuft immer wieder umstritten, gleichzeitig haben sich Grenzen aber selbst dort als ziemlich veränderungsresistent erwiesen, wo sie „eine erhebliche Inkongruenz von ethnisch-kulturellen, sozialen und politisch-territorialen“ Gegebenheiten aufweisen. Allerdings gehen solche Grenzen meist mit hohen politischen Kosten einher, weil Sezessionsbestrebungen oder Territorialkonflikte aus ihnen entstehen können, die nur schwer zu befrieden.**
Grenzen haben aber noch eine weitere wichtige Funktion: Die Steuerung von Mobilität. Dafür spielte schon immer weniger der Ort der Grenze, als vielmehr die Staatsangehörigkeit der Passierenden die Hauptrolle; denn Staatsbürger:innen werden an der Grenze ihres Heimatlandes bevorzugt behandelt. Grenzen erzeugen Ungleichheit: Denn sie sollen „nur die gewünschte Mobilität zulassen und unerwünschte kontrollieren, gegebenenfalls [abwehren].“
In seinem Buch Sortiermaschinen – Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert zeigt der Soziologe Steffen Mau, dass diese Funktion von Grenzen trotz der Globalisierung erhalten bleibt. Zwar verschwinden manche Grenzbarrieren wirklich, aber „die meisten verschwundenen Grenzbarrieren tauchen in anderer Form wieder auf.“ Mau beschreibt die Globalisierung folgerichtig als einen Prozess von gleichzeitiger Öffnung und Schließung von Grenzen.

Auf den ersten Blick scheint die These Maus wenig einleuchtend: Auch wenn die Corona-Pandemie kurzfristig zu einer Renaissance der geschlossenen Grenzen geführt hat, für die Menschen in Europa sind Grenzen in den letzten Jahrzehnten immer durchlässiger und unsichtbarer geworden.
Diesen Prozess beschreibt Mau als das Entstehen von „Makroterritorien“, also Gebieten, die über einen Staat hinausgehen und innerhalb derer es keine oder weniger strenge Grenzkontrollen gibt; ein Beispiel ist der Schengen-Raum.
Eine folge davon ist ein Bedeutungszuwachs für der Außengrenzen: Die müssen nämlich nun besser geschützt und strenger bewacht werden, um die Reisefreiheit im „Makroterritorium“ zu erhalten.
Ein Blick an die Außengrenzen des Schengen-Raumes bestätigt diesen Beschreibung: An den EU-Außengrenzen, am Mittelmeer oder den Zäune um die Spanischen Exklaven Ceuta und Melilla können wir beobachten: Die Grenze ist immer noch da – vielleicht sogar unüberwindbarer und tödlicher als es zuvor die nationalen Grenzen waren. 
Solche Grenzen werden außerdem immer häufiger befestigt; diese fortifizierten Grenzen werden seit der Jahrtausendwende immer zahlreicher – aller Öffnungsrhetorik zum trotz. 
Als Zweck dieser neuen Grenzbarrieren nennt Mau: Die unkontrollierte Grenzüberquerung unmöglich zu machen oder zumindest zu erschweren – die territoriale Integrität sollen sie dagegen meist nicht bewahren. 
Und so finden sich Mauergrenzen vor allem an den Nahtstellen zwischen globalem Norden und globalem Süden: „Mauergrenzen sind Wohlstandsgrenzen.“ Die meisten Mauergrenzen funktionieren wie Filter: Sie richten sich nicht gegen alle Reisenden, sondern nur gegen die unerwünschten.
Als weiterer Grund für die Zunahme fortifizierter Grenzen nennt Mau deren innenpolitische Dividende: Ein solcher Mauerbau erlaubt es, die Gegner:innen und Skeptiker:innen der Mauer als Gefährder:innen der Nation hinzustellen – ein Blame Game das zum Beispiel Donald Trump meisterhaft zu spielen verstand.
Als eine andere – weniger auffällige – Möglichkeit die Sortierfunktion einer Grenze zu verbessern, nennt Mau die Verlagerung von Kontrollen in das Gebiet vor der eigentlichen Grenze. Gerade westlichen Ländern gelingt es so, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Zum einen umgehen sie lästige rechtsstaatliche Standards; denn wer außerhalb ihrer Grenze kontrolliert wird unterliegt nicht ihrer Gerichtsbarkeit – und kann leicht in einem rechtlichen Vakuum landen.
Zum anderen können die Kontrollen in Länder verlegt werden, die mit Anreizen in Form von Visa-Erleichterungen für die eigenen Staatsbürger oder Entwicklungshilfe zur Kooperation gedrängt werden können.
Das hat für die Entwicklung dieser Staaten allerdings Nachteile: Sie werden zum Beispiel gehindert, selbst vollwertige Mitglieder eines (anderen) „Makroterritoriums“ zu werden und so ihre eigenen Entwicklungschancen zu verbessern.
Es bleibt zu hoffen, dass die Gier nach Sicherung der eigenen Außengrenzen und der Steuerung von Migration sich im Laufe des 21. Jahrhunderts nicht als entwicklungspolitisch ähnlich fatal erweist, wie die Gier nach Erdöl und anderen Rohstoffen im 20. Jahrhundert.

Grenzen erzeugen immer Ungleichheit: Als Sortiermaschinen einer globalisierten Welt ist es die Aufgabe von Grenzen, die Grenzgänger:innen in verschiedenen Kategorien einzuordnen. Zentral ist dabei die Frage, ein wie großes Risiko eine Person ist; eine Zuordnung, die immer sozial und kulturell bedingt ist und letztlich also politisch festgelegt wird.
Bisher operieren Grenzen meist mit generalisiertem Vertrauen: Den eigenen Staatsangehörigen bzw. Angehörigen des eigenen „Makroterritoriums“ wird generell vertraut, ebenso den Angehörigen bestimmter anderer Staaten und Visa-Inhaber:innen.
Das Reisen ohne Visum ist ein Privileg der Bewohner:innen des globalen Nordens – denn diese gelten überall als erwünschte Reisende. Sollten die Angehörigen dieser Staaten doch mal ein Visum benötigen ist das meiste eine reine Formalität.
Reisende aus dem globalen Süden haben es dagegen deutlich schwerer; sie sind häufig dem Verdacht ausgesetzt, in den globalen Norden migrieren zu wollen. Genau das sollen Grenzen in ihrer Funktion als Sortiermaschinen verhindern: Migranten sind im globalen Nordens (meistens) unerwünscht – für sie bleiben die Grenzen geschlossen.
Auch hier greift die Sortierfunktion der Grenze weit ins Hinterland: Wer weiß, dass die Grenze für ihn unüberwindbar ist, weil er kein Visum hat und auch nicht Visafrei reisen kann, der wird sich oft gar nicht erst auf den Weg machen.

In Zukunft könnten intelligente Technologien die Grenze zur smart Border ausbauen: „Eine perfekte smarte Grenze soll – für den erwünschten Reisenden – nicht viel anders funktionieren, als die gläserne Automatiktür eines Kaufhauses, die sich öffnet, sobald man sich nähert – und sich hinter einem geräuschlos wieder schließt.“ – Ein Schritt auf diesem Weg ist die automatisierte Erkennung einer Passinhaber:in anhand bestimmter biometrischer Merkmale; womöglich macht die Reisende den Scan sogar schon vor Reiseantritt zu Hause.
Daneben beschreibt Mau, dass künstliche Intelligenz auch zur individuellen Risikoklassifizerung der Reisenden benutzt werden kann – und damit die Einreise nicht mehr vom generalisiertem Ver- oder Misstrauen abhängt, sondern individualisiert werden kann.
Leider verweilt Mau nicht bei diesem, für die Grenzen im 21. Jahrhundert so spannenden Punkt. – und so wird nicht hinreichen klar: Solche smarten Lösungen basieren stets auf Korrelationen in einer großen Menge an Daten – und zwar im Wesentlichen aus Daten zu beobachtetem Verhalten, bevorzugt in standardisierten Situationen. Diese behavioristische Herangehensweise – die jeder künstlichen Intelligenz zu Grunde liegt – hat zwei große Nachteile:
Zum einen muss eine Korrelation keine Kausalität bedeuten. Es kann zum Beispiel hunderte Gründe geben, warum ein Reisender bei der Grenzkontrolle nervös ist oder warum er bestimmte Fragen nicht wahrheitsgemäß beantwortet. Entscheidend sind hier die Gründe für das beobachtete Verhalten – und diese kann eine künstliche Intelligenz derzeit nicht zuverlässig bewerten.
Zum anderen erzeugt eine smarte Grenze bei den potentiellen Reisenden auch Konformitätsdruck; denn wer eine problemlose Grenzpassage haben möchte, der verhält sich am besten so, dass die künstliche Intelligenz ihn gar nicht erst aussortiert.
Je nachdem wer der Datenlieferant ist kann das gravierende Folgen haben: Man stelle sich vor, in einem autoritären Staat ist die Teilnahme an (friedlichen) Demonstrationen für Demokratie oder gegen Korruption strafbar und anhand der von diesem Staat gelieferten Daten über strafrechtliche Verurteilungen wird über die Grenzpassage entschieden; dann besteht die Gefahr, dass durch das Grenzregime eines demokratischen Staates demokratische Bestrebungen in einer Diktatur bestraft würden.
Der Bedeutungswandel von Grenzen scheint mir weniger darin zu liegen, dass sie Menschen sortieren und unerwünschte Grenzüberquerungen verhindern, sondern darin, dass sie das – angetrieben durch die Digitalisierung und künstliche Intelligenz – immer individueller tun könnten. Deswegen war meine erste Assoziation zum Titel des Buches auch nicht die Grenze als Sortiermaschine, sondern die Sortiermaschine als Produzent von neuen Grenzen.
Diese neuen Grenzen müssen nicht notwendig territorial sein, sondern sie können eine Gesellschaft als unsichtbare und unüberwindbare Barrieren durchziehen und darüber entscheiden, wem welche Lebenschancen zugewiesen werden.
Staatsgrenzen dürften spannende Orte werden, an denen sich das Entstehen solcher individuellen Grenzen zuerst zeigt: Denn – wie Mau in anderem Zusammenhang zeigt – auch westliche Staaten sind bei der Organisation ihres Grenzschutzes alles andere als zimperlich; betroffen sind schließlich nicht die eigenen Staatsangehörigen, sondern nur Einreisende mit dem falschen Pass oder ohne Visum.***
Wenn wir künstlicher Intelligenz erlauben, über Menschen und ihr Schicksal zu entscheiden laufen wir immer Gefahr, dass unsere Gesellschaft das wird, was bei Thomas Mann noch ein Bonmot war: „grenzenlos borniert.“****

Anmerkungen:

Der Verlag C. H. Beck hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Auguste Bachelin (1830-1890), Auguste Bachelin – Schweizer Grenzsoldaten, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

* Womöglich ist das Territorialitätsprinzip auch ein Grund, warum die Herrscher in der folgenden Zeit eine Menge Aufwand trieben, ihre Gebiete genauer zu vermessen und zu kartieren.

** Das klassische Beispiel für solche primäran der Machpolitik der Großmächte orientierten Grenzen sind diejenigen, die für den afrikanischen Kontinent auf der Berliner Konferenz festgelegt worden sind. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte und zeigt die Stabilität einmal festgelegter Grenzen, dass dieses Kapitel des Kolonialismus bisher nicht überwunden werden konnte, ja die Überwindung der Grenzen meistens nicht mal mehr angestrebt wird.

*** Der andere spannende Ort, um die Folgen eines solchen Verfahrens zu beobachten ist China, wo mit dem „China Citizen Score“ ein ähnliches System bereits erprobt bzw. eingesetzt wird; allerdings nicht zur Sicherung der Außengrenze, sondern zur Disziplinierung der eigenen Staatsangehörigen; in ihrem Buch Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl zeigt die Sozioinformatikerin Katharina Zweig, warum es generell eine schlechte Idee ist einen Computer über das Schicksal von Menschen entscheiden zu lassen. Das Buch habe ich besprochen in diesem Blog am 26.03.2021; meine Besprechung findest du [hier].

**** Das Zitat stamm aus dem Roman Buddenbrooks von Thomas Mann.