Die falschen Freunde der einfachen Leute
von Robert Misik
Suhrkamp Verlag, 138 S., 14,00 €
Radikalisierter Konservatismus – eine Analyse
von Natascha Strobl
Suhrkamp Verlag, 189 S., 16,00 €
„Die einfachen Leute […] können sich ihre Häresie nicht aussuchen, sie halten sich immer an den, der gerade in ihrer Gegend predigt, der durch ihr Dorf kommt und auf ihren Plätzen spricht,“ belehrt William von Baskerville in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose seinen jungen Adlatus über das Wesen der Ketzerei.
William ist – bei aller intellektuellen Eitelkeit – ein Freund der ‚einfachen Leute‘, denn er sieht, wie praktische Nöte einige von ihnen in die Hände der Ketzerei treiben; was zur Zeit des Romans bedeutete: auf den Scheiterhaufen.1
Selbst wenn man berücksichtigt, dass Ecos Roman ein Produkt der späten 1970er Jahre und sein Mittelalter also modern überformt ist, bleibt doch festzustellen: Es hat sich an diesem Befund seit erstaunlich langer Zeit erstaunlich wenig geändert.
In seinem Buch Die falschen Freunde der einfachen Leute geht der österreichische Journalist Robert Misik der Frage nach, wer eigentlich diese ‚kleinen Leute‘ sind und warum manche von ihnen sich so leicht verführen lassen, gerade von Rechten; denn eigentlich sollten sie wissen: „Die extremen Rechten setzen sich wortreich für das Volk ein und verkaufen es dann an die wirtschaftlich Mächtigen.“
Die gängigen Definitionen seien sehr diffus; dass die ‚einfachen Leute‘ „irgendwo in unteren Bereich“ auf der sozialen Stufenleiter stehen, sei klar; allerdings bleibe „die soziale Standortbestimmung meist im Ungefähren.“ Bei genauem Hinsehen ergebe sich „ein Puzzle von Milieus und Lebenslagen zu denen sie gehören.“
Wer von den ‚einfachen Leuten‘ oder dem Volk rede, sei oft von politischem Interesse geleitet; nur eins sei in den meisten Fällen recht klar: die ‚einfachen Leute‘ werden als weiße, einheimische Männer (und Frauen) imaginiert.
Die Stimmung unter den ‚einfachen Leuten‘ sei gereizt. Das werde gerne auf eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik zurückgeführt. Diese These weist Misik auch nicht ganz von der Hand, denn die linken Parteien hätten mit den herrschenden Verhältnissen ihren Frieden gemacht und die ‚einfachen Leute‘ fühlten sich von ihnen weniger vertreten. Allerdings sei diese Erklärung für sich genommen genauso wenig ausreichend, wie es die Gegensätze von Stadt und Land, von Globalisierungsgewinnern und -verlierern oder hoher und niedriger formaler Bildung seien.
Auf der Suche nach einer besseren Erklärung für die Gereiztheit der ‚einfachen Leute‘ unternimmt Misik eine ebenso detaillierte wie lehrreiche Untersuchung der „Wirklichkeit der popularen, arbeitenden Klassen.“ Als ‚arbeitende Klassen‘ bezeichnet Misik dabei alle, die von Lohnarbeit leben, was ein Spektrum von der Paketbot:in bis zur Verkäufer:in und von der Altenpfleger:in bis zur Facharbeiter:in umfasst.
Sehr schnell findet er heraus, dass der Stolz auf die eigene Arbeit und Selbstdisziplin, das Leben aus eigener Kraft zu meistern, ein konstitutives Merkmal der ‚arbeitenden Klassen‘ sei; sie „schätzen rigide Selbstdisziplin, weil sie nötig ist, um einen harten Job, den man hasst, vierzig Jahre lang machen zu können.“
Mit den Armen und Fürsorge-Empfänger:innen möchten die Angehörigen der ‚arbeitenden Klassen‘ dagegen nicht in einem Topf geworden werden – und zwar um keinen Preis. Denn die würden von Ihnen als Leute abgestempelt, die sich zieren, die nicht arbeiten wollen und anderen auf der Tasche liegen.
Dieser Stolz sei allerdings fragil und anfällig für Kränkungen, gerade durch die Ober- und Mittelschichten und die Politik. Trotzdem werde nur ein kleinerer Teil der Angehörigen der ‚arbeitenden Klassen’ aus gekränktem Stolz heraus empfänglich für rechte Parolen; denn die arbeitenden Klassen seien sehr divers.
Das seien sie auch schon immer gewesen: Seit die ‚arbeitenden Klassen’ sich in der Industrialisierung als ‚Arbeiterklasse‘ formierten umfasste diese eine bunte Mischung von Gruppen. Die Arbeiterklasse sei stets heterogen strukturiert gewesen: „Sie wurde in Kämpfen geformt“ – und zwar von Menschen, die auch im 19. Jahrhundert eine ganze Lebenswelt trennen konnte, darunter etwa arrivierte Facharbeiter und dann wieder ungelernte, oft aus dem Ausland stammende Tagelöhner.
In der Zeit zwischen 1910 und etwa 1960 habe sich „die Arbeiterklasse von den Armen in das Volk“ verwandelt. Mit diesem Prozess seien bessere Arbeitsbedingungen und ein gewisser sozialer Aufstieg einhergegangen, der auch einer besseren sozialen Absicherung geschuldet war.
Trotzdem sei die Angst vor dem drohenden Abstieg – wenn auch gemildert – stets präsent geblieben: „Arbeit und – bescheidener – Wohlstand heißt eben auch Respekt. Armut und Absturz, ja selbst die Absturzgefährdung wurden als hingegen als Verlust jeder Respektabilität erlebt.“
Genau das sei dann in den Jahrzehnten nach 1960 eingetreten: Wirtschaftsabschwung und Rationalisierungsmaßnahmen ließen in der Industriearbeiterschaft das Gefühl wachsen, ersetzbar zu sein. Das hatte und hat Folgen für das soziale Klima: „Selbst wenn Langzeitarbeitslosigkeit kein so großes Problem ist, betrifft die chronische Arbeitsmarktinstabilität einen signifikanten Teil der Bevölkerung.“
Diese historischen Erfahrungen hätten dazu geführt, dass die ‚arbeitenden Klassen‘ sich oft abgewertet, ausgegrenzt und als „neue Minderheit“ fühlten – zumal dann, wenn sie zusätzlich noch einer „Identitätspolitik“ ausgesetzt seien, die von ihnen verlangt, stärker auf die Gefühle von Minderheiten Rücksicht zu nehmen – ohne freilich selbst Rücksicht zu geben. Beide Seiten aber hätten ein Recht auf Empathie, denn beide wissen nur zu gut:„Es macht einfach einen Unterschied, ob man mit Selbstbewusstsein durch die Welt geht oder unter dem Eindruck stetiger Verletzungserfahrung.“
Gerade die liberale Mittelschicht solle diese Verletzungserfahrungen nicht gering schätzen und bedenken: „Soziale Bewegungen […] waren immer dann erfolgreich, wenn die liberale Mittelschichten, Arbeiterklasse und Unterschichten sich verbündeten.“ Als Vorschuss würde es vielleicht schon ausreichen, den ‚arbeitenden Klassen‘ mit etwas mehr Verständnis zu begegnen und sie etwas weniger zu verketzern, selbst wenn sie sich mit den falschen Freunden umgeben haben sollten. Kombiniert mit einer Politik, die den ‚arbeitenden Klassen‘ etwas mehr Sicherheit gibt, könnte das schon Wunder wirken, denn: „Sicherheit ist der Boden auf dem Solidarität sich entfalten kann.“
Aus anderer Perspektive betrachtet die österreichische Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl in ihrem Buch Radikalisierter Konservatismus die Szene: Wo Misik mit der Lupe nach den ‚kleinen Leuten‘ sucht, wendet Strobl sich mit dem Fernglas nach oben und betrachtet die konservativen Eliten.
Strobl stellt fest: „Das Erstarken der neuen Rechten hat zu Erosionsprozessen innerhalb des konservativen Millieus geführt.“ Bisher staatstragende, konservative Parteien, wie die amerikanischen Republikaner oder die ÖVP, hätten, so Strobl, „die Sprache des Rechtspopulismus“ übernommen und versuchen „das bestehende politische System zu Ihren Gunsten zu ändern.“
Bevor Strobl mit ihrer eigentlichen Analyse beginnt, liefert sie einen – leider schmerzhaft verkürzten – Überblick über die Geschichte konservativer Bewegungen.
Strobl behauptet hier zum Beispiel, dass der Konservatismus seine Wurzeln im Bürgertum habe. Das ist aber nicht ganz richtig: Die ersten Konservativen waren Adelige, die sich sicherlich mit (auch bürgerlichen) Hofschranzen umgaben, denen aber vor allem an der Bewahrung der über Jahrhunderte gewachsenen organischen Ordnung der Gesellschaft gelegen war2 – und damit an der Wahrung der adeligen Vorrechte. Insofern beruht der Konservatismus, wie Strobl ausführt, auf der „Vorstellung, Ungleichheit sei für das funktionieren einer Gesellschaft konstitutiv.“
Aber nicht nur der Konservatismus allein beruht auf dieser Vorstellung – auch Teile der Liberalen haben gegen Ungleichheit wenig einzuwenden, so lange diese auf Leistung und Verdienst basiert.3 Dieser Teil der liberalen Bewegung, der insbesondere aus dem besitzenden und gebildeten Bürgertum bestand, sollte sich in den folgenden Jahrzehnten als durchaus anschlussfähig an den Konservatismus alter Schule erweisen.4
Im Hauptteil des Buches fasst Strobl ihre Beobachtungen der Vertreter:innen des ‚radikalisierten Konservatismus‘ zu einer griffigen Analyse zusammen – diese besteht aus sechs Erkenntnissen:
1. Die Vertreter:innen des ‚radikalisierten Konservatismus‘ würden immer wieder formelle und informelle Regeln des politischen Miteinander und altehrwürdige Traditionen brechen;5 man denke nur an Donald Trump. Dadurch wollen sie sich den „Nimbus des Revoluzzers [verschaffen], während den Kritiker:innen, die auf die Einhaltung von Regeln und Anstand pochen, nur die Spießerrolle bleibt.“ Folgen hätten diese Regelverstöße meistens nicht: abgesehen von der Empörung ihrer Gegner:innen natürlich.
2. Die Vertreter:innen des ‚radikalisierten Konservatismus‘ verfolgen mit ihrer Rhetorik das Ziel, vorhandene Risse in der Gesellschaft zu verstärken, insbesondere den Konflikt zwischen angeblichen linken Elten und einfachem Volk; stattdessen gelte es eine „durch Werte wie Stolz, Fleiß und Ehre gekennzeichnete Arbeiter:innenkultur der Vergangenheit“ wiederherzustellen und so den „nationalen Wiederaufstieg“ herbeizuführen. Bemerkenswert ist: Dieses Weltbild erlaube keine Graustufen oder Differenzierungen, bleibe aber trotzdem diffus.
3. Parteien des ‚radikalisierten Konservatismus‘ seien auf eine:n Anführer:in zugeschnitten: Er werde als Erlöser:in und Martyrer:in überhöht; eine echte Diskussion unter Gleichen könne so gar nicht erst entstehen, denn „die Vertreter des radikalen Konservatismus funktionieren nur als Opfer oder Martyrer, nicht als Gesprächspartner auf Augenhöhe.“ Jede Kritik werde sofort als Verrat gebrandmarkt.
4. Die Vertreter:innen des ‚radikalen Konservatismus‘ würden den Staat von innen aushöhlen: Den Sozialstaats bauen sie im Geiste einer neoliberalen Ideologie um, die unabhängige Justiz diffamieren sie und besetzen frei werdende Richterstellen mit passenden Richtern, das Parlament – immerhin das zentrale Repräsentationsorgan des Volkes – werde bei jeder Gelegenheit als Gegner des wahren Volkswillens angegriffen; ein Musterbeispiel sei Sebastian Kurz Satz: „Das Parlament hat bestimmt, aber das Volk wird entscheiden.“
5. Anstatt zwischen den Wahlkämpfen zur ruhigen Sacharbeit zurückzukehren, würden die Vertreter:innen des ‚radikalisierten Konservatismus’ im aufgeregten Wahlkampfmodus verharren. Die sachliche Arbeit werde zudemdurch ständige Falschbehauptungen erschwert, mit denen die Medien überflutet würden – den Redaktionen falle esso immer schwerer, Richtiges von Falschem und Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Damit ihre Kernbotschaft hängen bleibe, stellten die Vertreter:innen des ‚radikalen Konservatismus‘ außerdem bei jeder noch so unwichtigen Meldung eine Verbindung zu ihrem Kernthema hier: So führe Kurz beinahe jede Meldung auf sein Lieblingsthema Migration zurück.
6. Der ‚radikalisierte Konservatismus‘ schaffe eine Parallelrealität, in der zum Beispiel „konzise und kohärent erzählt wird, das es undefinierbare dunkle Mächte gäbe, die es nur darauf abgesehen haben, Kanzler Kurz zu Fall zu bringen – mit allen gemeinen Mitteln und Intrigen.“*6 Die Vertreter:innen des ‚radikalisierten Konservatismus‘ erklärtensich selbst zur einzigen Quelle korrekter Informationen und immunisieren ihre Anhänger gegen so kritische Berichterstattung.
Im Schlusskapitel „Weimar Caling“ kommt Strobl zu dem Ergebnis, dass der ‚radikalisierte Konservatismus‘ „das Spielfeld zum Kippen“ bringe. Sie befürchtet für die Zukunft ein Zusammengehen von Vertreter:innen des ‚radikalisierten Konservatismus‘ mit jenen der neuen Rechten – und führt die Weimarer Republik und denAustrofaschismus als historische Beispiele an.
Mir fehlt an dieser Stelle mindestes ein Zwischenschritt: Nicht der ‚radikalisierte Konservatismus‘ bringt das Spielfeld dem Kipppunkt immer näher, sondern die (ungelösten) gesellschaftlichen Verwerfungen, die er ausnutzt und verstärkt.
Trump und Kurz haben sich ihre Wähler nicht selbst gebacken, sondern sie waren einfach findiger darin, die Probleme potentieller Wähler zu erkennen – und diese für den eigenen politischen Aufstieg auszunutzen.7
Einen wesentlichen Anteil am Entstehen dieser gesellschaftlichen Risse hat jener – auch von Strobl angesprochene – Konsens zwischen den beiden großen Parteien, der sich ja nicht nur auf formale Fragen beschränkte, sondern der sich auf das (weitestgehend) ungehinderte Bestehen eines kapitalistischen Wirtschaftsordnung und – insbesondere in den USA – auf eine imperialistische und bellizistische Außenpolitik erstreckte – beides zu erheblichem Teil auf Kosten der ‚arbeitenden Klassen‘.8
Dass linke Politik erfolgreich sein und Mehrheiten gewinnen kann, gerade wenn sie diesen (faulen) Kompromiss inhaltlich eingreift, zeigen die Kanzlerschaften von Bruno Kreisky in Österreich und von Willy Brandt und Helmut Schmidt in Deutschland. Sie zeigen aber auch, dass es eine breite Mehrheit braucht, um eine solche Politik umzusetzen – zu der eben gerade die ‚arbeitende Klassen‘ gehören.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob es das ist, was Strobl meint, wenn sie linke und progressive Kräfte auffordert „weniger um sich selbst kreisen, Ambivalenzen aushalten und selbst zu zeigen, wie die Welt eigentlich aussehen könnte.“
Strobls darin enthaltene Forderung, den Kapitalismus zu überwinden und zu zeigen, wie eine postkapitalistische Welt aussehen könnte, ist mir etwas zu schwammig – und ich werde das Gefühl nicht los, dass auch Strobl (und die Linke, die sie anspricht) sich gern in einer Opferrolle sieht – als Opfer des ‚radikalisierten Konservatismus‘ nämlich. Einmal davon abgesehen, dass ich das für keine günstige Rollenverteilung halte, wären Strobl ihre eigenen Ausführungen entgegenzuhalten: Das Verharren in der Opferrolle mache einen konstruktiven Dialog unter Gleichen unmöglich – und genau das muss die Linke unter allen Umständen verhindern!
Denn eins dürfte ganz klar sein: Den Kapitalismus zu überwinden wird ein langwieriger und schwieriger Weg voller kleiner Schritte sein – und erst im Nachgang wird man feststellen: Das war der Punkt, an dem der Kapitalismus verschwunden ist.9 Dazu braucht es einen Raum, in dem neue Ideen möglichst breit und offen diskutiert werden können – ohne dass sie gleich mit dem Generalverdacht der Ketzerei belegt werden – oder wie Misik es formuliert: „Was klüger und was depperter ist lässt sich allerdings am besten diskursiv ergründen, steht also nicht schon vor dem Sprechakt fest.“10
Anmerkungen:
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Franz von Persoglia artist QS:P170,Q1448498, Franz von Persoglia – A View of Naschmarkt in Vienna, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.
Die Überschrift ist ein abgewandeltes Zitat des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky, der zu einem Journalisten gesagt haben soll: „Lernen S‘ a bisserl Geschichte, Herr Reporter!“ (Zitat nach Wikiquote.)
1 Das Buch Der Name der Rose von Umberto Eco habe ich in diesem Blog am 12.03.2021 besprochen; die Besprechung findest du [hier].
2 Insofern könnte man sich nach zwei Jahrhunderten voller Reformen fragen: Gibt es überhaupt noch eine organisch gewachsene Ordnung? – Wenn die Antwort ‚Nein‘ lautet, wäre ein Konservatismus im ursprünglichen Sinne gar nicht mehr möglich.
3 Sogar Teile der Linken bzw. die Arbeiterbewegung haben wenig gegen Ungleichheit einzuwenden, wenn diese auf Leistung basiert und Chancengleichheit herrscht; dass auch diese Ungleichheit eine zweischneidige Sache sein kann, erläutert Robert Habeck in seinem Buch Von hier an anders, das ich in diesem Blog am 11.06.2021 besprochen habe; die Besprechung findest du [hier].
4 Eine besondere Form dieses Zusammengehens lässt sich womöglich in Großbritannien beobachten: Da die dortige Adelsverfassung dazu führt, dass ein substanzieller Adelstitel (zum Beispiel der eines Earl) nur an den ältesten Sohn übergehen kann, hat zur Folge, dass alle anderen Söhne und Töchter eines Peers nur noch aus Höflichkeit zum Adel gezählt werden. Das mag ein Grund sein, warum sich unterhalb des Adels eine relativ offene Schicht gebildet hat, die aus der Gentry (als den Knights und Barronets) einerseits sowie andererseits aus den nicht Hochadeligen Kindern und aufgestiegenen Bürgerlichen bestand. Soweit nicht der Gentry angehörig war ein Aufrücken in die Reihe der Knights und Barronets häufig – und sogar ein Aufrücken in den Hochadel kam immer wieder vor.
5 Strobl wurde von einigen (vermutlich konservativen) Lesern darauf hingewiesen, dass ‚radikalisierter Konservatismus‘ eine contradictio in adiecto sei, weil Konservatismus per definitionem nicht radikal sei. Hier zeigt sich, dass es weit eher umgekehrt sein könnte: Das, was Strobl beschreibt, kann streng genommen kein Konservatismus sein, weil er sich um Regeln und Traditionen, die das Herbarium des Konservatismus sind, nicht schert. Aber das ist eine Haarspalterei für Liebhaber überlanger Fußnoten.
6 Die Realität des Sebastian Kurz sieht freilich anders aus. Ihn zu stürzen brauchte es vor der Hand gar keine bösen Intrigen, sondern nur ein paar Staatsanwälte, die ihren Job machen.
7 Das ist besonders bei Donald Trump zu bemerken: Bei ihm fragt man sich, ob er überhaupt tiefergehende Überzeugungen hat oder ob er einfach als die Figur agiert, die den meisten Beifall bekommt. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Donald Trump sich bereits im Jahr 2000 um die Präsidentschaftskandidatur der Reform Party beworben hatte. Dabei sei er mit einem wesentlich liberaleren Programm angetreten als anderthalb Jahrzehnte später. Nach einigen Vorwahlen zog er sich aus dem Rennen um die Kandidatur zurück.
8 Meine Argumentation nimmt Anleihen an zwei Artikel aus dem New York Review of Books: Einmal dem The Trump Inheritance von Fintan O’Tool (Nr. 3/2021) und Orthodoxy of the Elites von Jackson Lears (Nr. 1/2021); bei letzterem handelt es sich um einen fulminanten Verriss des Buches Twilight of Democracy: The Seductive Lure of Authoritarianism und seiner Autorin Anne Applebaum, dessen Gipfel der Satz ist: „Like McCain, Applebaum seems rarely to have seen a problem, at least overseas, that couldn’t be solved by bombing.“
9 Diese Argumentation ist einmal mehr Robert Habeck und seinem Buch Wer wir sein könnten verpflichtet, das ich am 11.06.2021 besprochen habe; die Besprechung findest du immer noch [hier].
10 Ich habe die Bücher von Misik und Strobl – anders als ursprünglich geplant – zusammen besprochen, weil sie sich beide sehr gut ergänzen und idealerweise nebeneinander im Regal stehen sollten. Dem Suhrkamp Verlag gebührt Dank, weil er die Bücher farblich passend geliefert hat.