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Literatur & Kultur

Die Entdeckung und Eroberung Europas durch die Inka

Eroberung
von Laurent Binet, aus dem Französischen übersetzt von Kristian Wachinger
Rowohlt, 384 S., 24,00 €

Begegnungen von einander fremden Kulturen können Angelpunkte der Geschichte sein. Da solche Begegnungen – selten werden sie geplant, meist ereignen sie sich zufällig – gleichzeitig von einem empfindlichen Gleichgewicht verschiedener Faktoren abhängig sind, eignen sie sich hervorragend, um eine Alternativgeschichte zu formulieren.
Das ist das Grundprinzip des Romans Eroberung des französischen Schriftstellers Laurent Binet: Freydis, die Tochter Eriks des Roten, macht sich gemeinsam mit anderen Wikingern auf den Weg nach Amerika, das ihr Bruder Leif Eriksson kurz zuvor entdeckt hat, um sich dort anzusiedeln. 
Grad angekommen, „Freydis war schwanger und übelst gelaunt“, lässt sie wegen eines Streites um ein Schiff zwei ehemalige Verbündete von ihrem Mann erschlagen. „Eigenhändig tötete sie dann noch mit dem Beil deren Frauen.“
Anders als die historische Freydis, entscheidet sich die Freydis des Romans, nicht nach Grönland zurückzukehren – „denn sie fürchtete den Zorn ihres Bruders Leif, wenn er erführe, dass sie sich des Mordens schuldig gemacht hatte“ – sondern segelt mit ihrem Mann und einigen Getreuen nach Süden. 
Dabei begegnen sie verschiedenen Gruppen von Ureinwohnern, von den Wikingern „Skrälinger“ genannt, die sie freundlich aufnehmen. „Das Völkchen siedelte sich in der Nachbarschaft des Skrälingerdorfes an, und die beiden Gruppen lebten nicht nur ungestört zusammen, sondern halfen einander auch gegenseitig“* – die Skrälinger lernen die Herstellung von Eisen und das Schmieden, vor allem von Waffen, die Wikinger den Anbau von Mais, Kürbissen und Kartoffeln.
Doch bald werden die Skrälinger krank – und manche sterben. Als dies in Nordamerika zum ersten Mal geschieht, fürchten sich die Wikinger und fliehen. Als es sich auf Kuba wiederholt, die Wikinger aber nicht erkranken, erkennt Freydis: „Sie selber waren die Seuche.“ – Weil sie sich verflucht wähnen, setzen die Wikinger ihre Reise nach Süden fort und landen schließlich auf dem südamerikanischen Kontinent und treffen auf die Vorfahren der Inka, bei denen sie heimisch werden und bleiben.

Gute fünf Jahrhunderte später landet ein europäischer Entdecker auf Kuba: Dort trifft er Ureinwohner, die nackt sind und die er für ziemlich primitiv und naiv hält; immerhin können sie Erz gewinnen und schmieden. 
Doch der Versuch die Insel für seinen König in Besitz zu nehmen, geht gründlich schief: Die Ureinwohner wiegen ihn in Sicherheit, entern seine Schiffe und können in den darauf folgenden Kämpfen die meisten Spanier töten.
In seinem Logbuch fragt sich Christoph Kolumbus: „Wer hätte derlei Heimtücke von Menschen erwartet, die nackt umherliefen?“ – Der gescheiterte Endecker überlebt und fristet nun sein Gnadenbrot am Hof der Königin von Kuba; dort ist er „nichts mehr als ein Hofnarr, gerade dazu gut ihrer Tochter ein wenig Abwechslung zu verschaffen.“ Immerhin: Prinzessin Higuenamota hängt an den Lippen des alten Kolumbus, wenn er von seiner Heimat erzählt.
Vierzig Jahre danach taucht der Inka-König Atahualpa auf Kuba auf; auch er ist, wie so manche Figur in Eroberungen, eine historische Persönlichkeit, deren Biografie Binet in das Gewebe seines Romans einwebt und verändert. 
Der historische Atahualpa hatte nach dem Tod seines Vaters Huayna Cápac den nördlichen Teil des Inkareiches um Quito geerbt, sein Bruder Huáscar den Südteil des Reiches um Cuzco. Doch die Reichsteilung funktionierte auf Dauer nicht und so kam es zum Bürgerkrieg, den Atahualpa gewann. 
Die Spanier, bisher nur Zaungäste bei diesem Krieg, entführten den siegreichen König, verlangten und bekamen ein riesiges Lösegeld – und ermorden ihn trotzdem, woraufhin das Inka-Reich zusammenbracht. – Es zeugt von Binets sicherem Gespür für Ironie, dass er genau diesen Atahualpa nun zum Entdecker und Eroberer des Heimatlandes seiner Mörder macht.
In Eroberungen sind keine Spanier da; denn da Kolumbus nicht wiederkehrte, fand das Zeitalter, in dem europäische Seefahrer und Abenteurer die Welt entdeckten, nicht statt; oder mit den Worten der Königin von Portugal: „Er war nicht wiedergekommen, und infolgedessen habe danach niemand mehr den Versuch gewagt, den Ozean zu überqueren.“ 
Doch hier sieht Binet einen Angelpunkt, wo womöglich gar keiner ist: Kolumbus war ja Teilnehmer an einem Rennen zwischen Spanien und Portugal um die Erforschung des Atlantischen und Indischen Ozeans. Genauer: Seine Expedition war der verzweifelte Versuch der Spanier bei der Suche eines Seeweges nach Indien den portugiesischen Vorsprung wett zu machen. Wenig berechtigt zu der Annahme, dass bei einem Scheitern von Kolumbus Expedition Europa den Weg eines Kaisers Hongwu** gegangen und die Seefahrt – zumindest einen bestimmten Teil davon – quasi verboten hätte.

Im Roman geht der Bürgerkrieg zwischen Atahualpa und Huáscar anders aus als in der historischen Wirklichkeit: Bei seinem Versuch Cuzco zu erobern, erleidet Atahualpas Heer eine vernichtende Niederlage; die Verluste sind so verheerend, dass nicht einmal ein Rückzug in seine Hauptstadt Quito ihn retten kann. Die Überlebenden fliehen – zuerst über Land, dann übers Meer nach Kuba.
Doch auch dort sind Atahualpa und die Seinen nicht sicher vor Huáscars Rache – zwar gelingt es ihnen, seine Schergen vorläufig in die Irre zu führen, aber es ist klar: Sie müssen Kuba so schnell wie möglich verlassen.
Die rettende Idee hat Prinzessin Higuenamota, inzwischen eine Frau in den Vierzigern: Die Quiteños sollen über das Meer fliehen, in die Heimat des weißen Reisenden. Wie es scheint, hat die Prinzessin die wundersamen Geschichten des alten Kolumbus nie vergessen und außerdem hat sie von ihm ein wenig Spanisch gelernt – weswegen ist sie eine willkommene Begleiterin für Atahualpa ist.
Trotz geringer nautischer Kenntnisse gelingt es den Quiteños, den Ozean zu überqueren und in Lissabon zu landen. Dort herrscht Chaos, denn einige Tage zuvor wurde die Stadt von einem Erdbeben erschüttert. Die Meinungen der Menschen über die Quiteños gehen auseinander: „Eine Minderheit sah in ihnen Abgesandte des Himmels. Die große Mehrheit aber betrachtete sie schlicht als böse Geister.“
Und so machen sich die Quiteños auf den Weg nach Spanien und durchqueren dabei eine fremde Welt voller Merkwürdigkeiten. Sie sehen bittere Armut und finden „es befremdlich, dass diese Darbenden solche Ungerechtigkeiten ertrugen, ohne den anderen an die Gurgel zu gehen oder Feuer an ihre Paläste zu legen.“ 
Noch befremdlicher erscheint ihnen die Religion der Eingeborenen mit ihrem „angenagelten Gott“ und ihren barbarischen Bräuche, wie die Verbrennung von Ketzern. Sie meinen, „dass ein Gott, der verlangte, dass man Menschen, ganz gleich, was sie verbrochen hatten bei lebendigem Leib verbrannte ein schlechter Gott sei […] ein solcher Gott verdiene es nicht, dass man ihn verehrt.“ – Diese Abscheu Atahualpas mag auch eine Anspielung auf das Ende seines historischen Alter Egos sein – das auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde.
Die Europäer als primitive Eingeborene, die Inka als überlegene Entdecker, die die Geschichte ihrer Landnahme schreiben werden; die Leser:innen bekommen das eigentlich vertraute Europa von Binet durch die Brille der fremden Eroberer präsentiert – ein Blickwinkel der ungewöhnlich ist.
Um in Toledo nicht selbst als Ketzer verbrannt zu werden, richten sie in der Stadt ein Massaker unter den dort lebenden Christen an – und werden so zur Hoffnung der unterdrückten Minderheiten und Atahualpa erkennt, „dass sich hier etwas Schwerwiegendes abspielte rund um die verschiedenen Glaubensrichtungen, um Juden und Conversos, um muslimische Morisken, um Lutheraner, um alte und neue Christen.“
Daraus schlägt er Kapital: In Salamanca trifft Atahualpa sich mit Kaiser Karl V. , nimmt ihn zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn Philipp im Handstreich gefangen – und verschanzt sich mit seinen Leuten und seinen Geiseln auf der Alhambra in Granada.
Nach dem versehentlichen Tod Karls V. und nach vielen weiteren Wendungen gelingt es Atahualpa sich mit Huáscar zu versöhnen und in der neuen Welt Fuß zu fassen. Er wird Kanzler des minderjährigen Königs Phillip II. – und damit faktisch Herrscher von Spanien. 
Er schafft die Inquisition ab und erlässt das „Edikt von Sevilla“, das allen Konfessionen die freie Religionsausübung gestattet. Der Handel mit der „Alten Welt“ blüht und macht Spanien reich.
Doch das ist Atahualpa nicht genug: Mit Gold, List und einer gehörigen Portion Skrupellosigkeit erobert er die „Neue Welt“ – dabei erweist er sich als eifriger Schüler Machiavellis: Als Philipp II. bei einem fingierten Unfall stirbt, wird er selbst König von Spanien, später auch Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.
Auf dem Höhepunkt seiner Macht tauchen weitere Eroberer aus der „Alten Welt“ auf, die Azteken landen in Frankreich – doch die Kolonialherren können sich bald darauf einigen, die „Neue Welt“ unter sich aufteilen.
Nach weiteren Verwicklungen wird Kaiser Atahualpa – wie sein historisches Vorbild – ermordet, allerdings in Florenz.

Im letzten Teil des Romans schildert Binet das Leben von Miguel Cervantes und El Greco im kolonialisierten Europa. Gemeinsam kämpfen sie zunächst für das in Bedrängnis geratene Papstum, nehmen an der Seeschlacht von Lepanto teil und werden in Bordeaux fast bei einem aztekischen Opferritual getötet. Auf der Flucht durch Frankreich verstecken sie sich im Haus des Intellektuellen und Beamten Miguel de Montaigne. Sie bleiben dort längere Zeit und Montaigne entdeckt Cervantes’ Talent als Schriftsteller und El Grecos Talent als Maler. 
Am Ende werden sie erneut verhaftet, entgehen aber durch Montaignes Fürsprache dem Tod und werden stattdessen in die „Alte Welt“ verkauft, „denn Malerei und Literatur sind zwei Gebiete, auf denen sich diese großartigen Reiche […] noch nicht in Überlegenheit über die alte Welt hervortun können.“
Sicherlich erreicht Binet an dieser Stelle einen Höhepunkt bei der Verknüpfung von realen Personen mit dem fiktiven Gewebe seines Romans. Gleichzeitig habe ich mir die Frage gestellt: Welchen Zweck hat diese Episode im Gefüge des Romans?
Schon beim Lesen des Teils, der sich mit Atahualpa befasste, habe ich mich über die Erzählperspektive gewundert: Mal schien der Erzähler erstaunlich nah und schreibt zum Beispiel zur Entführung Karls V. in Salamanca: „Ich selbst habe viele Quiteños in die Hose machen sehen, ohne dass sie es merken.“ – An anderer Stelle erscheint der Erzähler dagegen weit entfernt vom Geschehen, zitiert Gedichtfetzen, ganze Briefe und – wenn man den Roman als ein Ganzes betrachtet – das Logbuch von Kolumbus, sowie die Saga von Freydis. Dennoch erfährt man nie, wer hier eigentlich erzählt.
Aber vielleicht legt Binet mit dem letzten Abschnitt ja eine Fährte? – Könnte es nicht sein, dass der in die „Alte Welt“ verfrachtete Miguel Cervantes der Erzähler der Romanhandlung ist? So würde sich auch der letzte Teil sinnvoll in das Ganze des Romans einfügen. Davon abgesehen wird auch Don Quijote, das Meisterwerk des historischen Cervantes, aus einer ähnlich unklaren Perspektive erzählt und stellt die Leser:in bis heute vor ein Rätsel***
Auch hier dürfte Binet dem Vorbild Cervantes folgen; denn er scheint das Spiel mit historischen Figuren und Fakten zu lieben. Immer wieder muss die Leser:in einzelne Fakten nachschlagen, um die Grenze zwischen Realität und Fiktion finden zu können. Mir jedenfalls hat Binet es damit leichter gemacht, ihm die ungeheuerlichen Unwahrscheinlichkeiten seiner Alternativgeschichte zu verzeihen.

Anmerkungen:

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Greene, A. B., engraver, The execution of Inca, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

* Dies ist die zweite Stelle an der der Deutsche Text suboptimal wirkt: „halfen einander auch gegenseitig“ ist sicherlich kein gutes Deutsch – und schon zuvor offenbart (vermutlich auch hier der Übersetzer) eine gewisse Unkenntnis des (ja auch historischen Stoffes): Freydis ermordete die Frauen ihrer Gegner selbstverständlich mit dem ihr gemäßen Werkzeug: der Streitaxt.

** Der chinesische Kaiser Hongwu erließ 1368 ein Verbot der privaten Seefahrt.

*** Davon abgesehen erwähnt Binet Don Quijote auch im Literatur-Verzeichnis seines Romans.