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Gesellschaft & Politik

Jenseits von München

Eskalationen – Wie Hitler die Welt in den Krieg zwang
von Benjamin Carter Hett; aus dem Englischen übersetzt von Karin Hielscher
Reclam, 560 S., 32,00 €

Die gängige Erzählung über den Ausbruch des Zweiten Weltkrieg ist wie eine schlecht beleuchtete Straße: Einige Teile des Weges – die Münchener Konferenz, der Hitler-Stalin-Pakt, der Angriff auf Polen – sind gut beleuchtet, aber weite Teile des Weges liegen im Dunkeln.
In seinem Buch Eskalationen – Wie Hitler die Welt in den Krieg zwang beleuchtet der amerikanische Historiker Benjamin Carter Hett diese Wegstrecken. Dabei verliert er nie aus den Augen, wie neu die Herausforderung durch den Faschismus für die Demokratien und ihre Anführer war, die ihre Einstellungen immer wieder – auch unter dem Druck der öffentlichen Meinung – an neue Entwicklungen anpassen mussten. 
Zudem müsse die heutige Leser:in sich klarmachen, „wie kontingent und unvorhersehbar diese Entwicklungen waren.“ Denn die so geordnet erscheinende Vergangenheit war einst ungewisse Zukunft, die aus einer verworrenen Gegenwart gewonnen wurde. 
Hett entführt in seinem Buch die Leser:in hinter die Kulissen von Whitehall und Wilhelmstraße, indem er anhand der Quellen Parlamentsdebatten, Kabinettssitzungen und vertraulichen Besprechungen rekonstruiert. So gelingt es Hett den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Stile einer fesselnden historischen Investigativ-Reportage aufzubereiten – und der Leser:in zugleich neue Einsichten darüber zu verschaffen, wie Hitler der Welt seinen Krieg aufzwang.

Für die Demokratien war Hitler in vielerlei Hinsicht eine Bedrohung: Einerseits erzielte er zunächst beachtliche Erfolge, die in den alten Demokratien des Westens die Frage aufkommen ließ, ob ihre Zeit abgelaufen war. Andererseits rüstete das Deutsche Reich seine Streitkräfte seit 1933 in wahnwitziger Geschwindigkeit auf.
„Ende 1937 handelte Hitler unter dem Eindruck eines neuen Gefühls der Dringlichkeit, was seinen Wunsch und seinen Willen betraf, einen Krieg zu führen,“ stellt Hett fest. Im November 1937 enthüllte er in kleiner Runde seine Pläne für die nächsten Jahre: Er wollte Österreich und die Tschechoslowakei seinem Reich einverleiben; aber vor allem wollte er die Sowjetunion angreifen, um ‚Lebensraum’ zu erobern.
Reichswehrminister Blomberg und Heeres-Oberbefehlshaber Fritsch widersprechen: Die Verwirklichung dieser Pläne würde zu einem erneuten Krieg gegen Frankreich und Großbritannien führen – und zu einer zweitendeutschen Niederlage.
Hitler ist anderer Ansicht – und wird darin nur Tage später bestärkt: Der britische Diplomat (und spätereAußenminister) Lord Halifax besucht ihn inoffiziell und bietet ihm an, bestehende Differenzen auf dem Verhandlungswege zu lösen – was bei Hitler den falschen Eindruck hervorruft: Großbritannien gebe ihm freie Hand in Osteuropa.
Doch so weit geht die Bereitschaft der Briten zum ‚Appeasement‘ nicht: Zwar ist dem britischen Premierminister Neville Chamberlain an einem Ausgleich mit dem Deutschen Reich gelegen – aber nicht um jeden Preis. 
Zugleich hatten die Briten Ende 1937 einen weiteren Grund, einen Krieg zumindest hinauszuzögern: Die britische Verteidigungsdoktrin war im Wandel, seit sich Luftmarschall Hugh Dowding mit der Annahme durchgesetzt hatte, dass gut koordinierte und geführte Jagdflieger die Wucht eines massiven Luftangriffs mit Bombern abfangen oder zumindest mindern könnten.
So konnten die Briten ihre Verteidigung der Royal Air Force und der Royal Navy überlassen – und auf eine große Armee verzichten. Zusätzlich konnten sie ihre wirtschaftliche Stärke und die überlegenen Ressourcen des Empires in die Waagschale werfen – und so den Gegner in einem langen Krieg zermürben, ohne sich auf größere und verlustreiche Bodenoperationen einlassen zu müssen.
Für einen solchen „Krieg mit begrenzter Haftung“ sprach auch ein weiterer Grund: Großbritannien war vor einigen Jahren zum allgemeinen Wahlrecht übergegangen und „eine Demokratie könne außerdem nicht die gleichen Ansprüche an ihre Bürger stellen wie eine Diktatur.“

Dieses strategische Konzept nötigt Chamberlain im November 1938 zu einem bemerkenswerten Schritt: Er fliegt zu Hitler nach Berchtesgaden, um mit ihm persönlich zu verhandeln. Eine Geste deren Bedeutung wir, im Zeitalter der Düsendiplomatie und Weltinnenpolitik, kaum erfassen können. Chamberlain aber hatte „die beispiellose Dramatik, die seinem Flug nach Deutschland deswegen zu eigen war, […] bewusst mit einbezogen in seine Kalkulation der Auswirkungen dieser Reise – auf Hitler und auf den Rest der Welt.“
Nötig geworden war diese Aktion, nachdem Hitler im März 1938 nach Österreich einmarschiert war und sich im September 1938 der – von deutscher Seite bewusst angeheizte – Konflikt der Sudetendeutschen Minderheit mit der Tschechischen Regierung so dramatisch zuspitzte, dass ein Überfall Hitlers auf die Tschechoslowakei drohte.
Nach einigem Hin und Her können sich Chamberlain und Hitler bei ihrem ersten Treffen einigen: Die Sudetengebiete sollen dem Deutschen Reich zufallen. Chamberlain reist nach London zurück und drängt sein Kabinett, die Franzosen und die Tschechen, diesem Vorschlag zuzustimmen.
Bei Chamberlains zweitem Besuch stellt Hitler weitere Forderungen: Die Tschechoslowakei soll nun auchGebietsansprüche weiterer Nachbarn befriedigen – von diesen neuen Bedingungen kann Chamberlain nicht einmal mehr sein Kabinett überzeugen.
In den folgenden Tagen beginnen die Briten Luftschutzgräben auszuheben, Gasmasken zu verteilen und sich auf einen Krieg vorzubereiten. Die britische Bevölkerung scheint entschlossen zu sein, in den Krieg zu ziehen. Sie weiß: Ihre Regierung ist an die äußerste Grenze der möglichen Zugeständnisse gegangen.
Zeitgleich scheitert Hitlers Versuch, die Kriegsbegeisterung des August 1914 wiederaufleben zu lassen: Statt den paradierenden Soldaten zuzujubeln, bleiben die Berliner still und desinteressiert. Ein ausländischer Beobachter schreibt über die Szene: „Es war die eindrucksvollste Demonstration gegen den Krieg, die ich je gesehen habe.“
Als Mussolini ein paar Tage später die Einberufung einer internationalen Konferenz zur Lösung der ‚Tschechischen Frage‘ vorschlägt, rettet er seinen Verbündeten Hitler damit womöglich: Denn im Hintergrund planen einigeranghohe Militärs – viele Namen sind aus dem Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli 1944 bekannt – einen Putsch gegen Hitler. 
Sie haben sogar Kontakt zu den Briten und ermuntern Chamberlain erfolglos zu einer härteren Haltung gegenüberHitler. Trotzdem reist Chamberlain ein drittes Mal nach Deutschland – diesmal nach München.

Der Jubel, mit dem Chamberlain bei seiner Rückkehr aus München empfangen wird, sei schnell einer beklemmenden Ernüchterung gewichen: Das Münchener Abkommen war eine kaum kaschierte Niederlage – undein Verrat der Demokratien an der Tschechoslowakei. 
In Großbritannien ging der Vertrag zwar glatt durchs Parlament, aber gleichzeitig begann ein Wandel deröffentlichen Meinung – und Churchills Ablehnung des Münchener Abkommens wurde zunehmend als plausibelangesehen.
Gleichzeitig ermöglichte der Abschluss des Abkommens den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt sein Land auf einen Krieg in Europa vorzubereiten. Dabei nahm er christliche Werte in Anspruch, um den Kampf gegen den Faschismus zu rechtfertigen und die isolationistische Grundstimmung in seinem Land zu verändern.
Auf der anderen Seite war auch Stalin vom Münchener Abkommen überrascht. Die sowjetische Außenpolitik beschreibt Hett als von Paranoia geprägt: „Stalin definierte das Maß der sowjetischen Sicherheit anhand der Größe des Raumes, der zwischen seinem Land und einem Aggressor lag.“
Zusätzlich kam für ihn Hitlers erstarkender Expansionsdrang zur Unzeit: Stalin hatte in den Jahren 1937/38 seine Armeeführung gesäubert – und dabei einen Großteil der höheren Führungskräfte der Roten Armee ermorden oder einsperren lassen.
Den Bruch des Münchener Abkommens und den Einmarsch in die ‚Rest-Tschechei‘ nennt Hett einen verhängnisvollen Schritt. Erstmals brach Hitler ein Abkommen, dass er (nur wenige Monate zuvor) selbst geschlossen hatte. „Für die führenden westlichen Politiker war immer die entscheidende Frage gewesen, ob HitlersZiele begrenzt waren. Jetzt hatten sie ihre Antwort.“
Dementsprechend wurden die Kriegs-Vorbereitungen in Großbritannien und Frankreich konkreter: Sie gaben eine Garantie für die polnische Grenze ab und begannen mit der Sowjetunion über ein Bündnis gegen Hitler zu verhandeln; aber die Verhandlungen waren zäh und kamen nur schleppend voran. Denn sie konnten der Sowjetunion nicht geben, was diese wollte: die Kontrolle über Osteuropa und das Baltikum.
Nachdem es Hitler in der ersten Hälfte des Jahres 1939 nicht gelungen war, Polen für einen Krieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen, vereinbarte Hitler im August 1939 binnen weniger Wochen mit Stalin eine (erneute) Aufteilung Polens.

Als der Krieg ausbrach, wurde sehr schnell klar: Chamberlain ist kein geeigneter Kriegspremier. Der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg von Winston Churchill begann. Schon in seiner Rede am 3. September legte er dar, worum es in diesem Krieg gehen werde: Nicht in erster Linie um die Verteidigung von Polen oder Danzig – hier konnten die Briten im Augenblick nicht viel tun – sondern darum, die Nazi-Tyrannei zu überwinden und den Fortbestand von Demokratie und individuellen Rechten zu gewährleisten.**
Schon bald musste Chamberlain seinen Rivalen Churchill in die Regierung holen – als Ersten Lord der Admiralität. In einer bemerkenswerten Geste schrieb US-Präsident Roosevelt bereits im Jahr 1939 einen Brief an Churchill direkt – und zeigte damit, wie stark die Autorität Chamberlains bereits verfallen war.
Auf deutscher Seite sah Hitler sich nun in einem Krieg mit Frankreich und Großbritannien, den er nicht erwartet hatte. Im Winter 1939/40 wurde in Berlin diskutiert, wie dieser Krieg zu führen sei: Die Mehrheit der Generäle wollte ihn am liebsten gar nicht führen, weil sie eine Wiederholung des Ersten Weltkrieges befürchteten.
Hitler dagegen wollte durch einen schnell vorgetragenen Panzerangriff Frankreich erobern – und Großbritannien zur Aufgabe zwingen. Diese Taktik plante er am Generalstab vorbei mit einigen getreuen Militärs – und der Erfolg seines Angriffs auf Frankreich im folgenden Jahr schien ihm zunächst Recht zu geben.
Doch Großbritannien war nicht in die Knie zu zwingen: Zu stark und gut organisiert waren Royal Air Force und Royal Navy – und zu wortgewaltig stimulierte Churchill den Widerstandswillen seines Volkes. 

Immer wieder tauchen in Hetts Buch Gedanken auf, die weiter in die Geschichte zurückreichen und die für die Gegenwart immer noch von Bedeutung sind:
Das Maß der sowjetischen Sicherheit scheint nicht nur für Stalin der Raum zwischen der sowjetischen bzw. russischen Grenze und dem nächsten Gegner zu sein, sondern auch für viele seiner Vorgänger und Nachfolger bis in die Gegenwart.
Die Strategie der Abschreckung und des begrenzten Konflikts nimmt in gewisser Weise die strategische Doktrin der NATO vorweg, die ebenfalls auf (atomare) Abschreckung setzt – und nicht auf eine überlegene Armee.
Das von Roosevelt geprägte Narrativ, nach dem der Nationalsozialismus zu bekämpfen sei, weil er christlichenWerten zuwider läuft, erinnert sehr an die Narrative, mit dem später der Kampf gegen die Sowjetunion und den Kommunismus und noch später gegen den Islamismus gerechtfertigt wurden.
Gleichzeitig gelingt es Hett in seinem Buch, zu zeigen, wie Demokratien in der Vergangenheit großenHerausforderungen begegnet sind und sie bewältigt haben – auch wenn es zunächst wie Scheitern aussah. Hett zitiert im Nachwort eine treffende Bemerkung Neville Chamberlains: „Eine Demokratie wacht erst auf, wenn die Gefahr unmittelbar bevorsteht. Die Anführer müssen warten, bis sich eine öffentliche Meinung gebildet hat, und dann versuchen, ihr ein wenig voraus zu sein.“ – Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Die großen Sprünge einer Diktatur werden am Widerstand und mehr noch an der beharrenden Bräsigkeit derjenigen Scheitern, über deren Kopf hinweg so schnell entschieden wurde. Die langen Entscheidungsprozesse mögen zunächst aussehen wie scheitern, aber die Demokratie wird im Laufe der Zeit aufholen: Denn sie kann auf die freiwillige Kooperation, ja Opferbereitschaft ihre Bürger vertrauen – und wird so auch zukünftige Herausforderungen und Bedrohungen meistern.***

Anmerkungen:

Der Reclam Verlag hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Ministry of Information official photographer, MunichAgreement, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

* Diese Herausforderung beschreibt Sinclair Lewis sehr treffend in seinem Roman Das ist bei uns nicht möglich – besprochen in diesem Blog am 12.02.2021; den Link zur Besprechung findest du [hier].

** vgl. Churchills Rede vor dem House of Commons am 03.09.1939.

*** Ich könnte jetzt noch hinzufügen, dass die Demokratie anders als die Diktatur auch noch die Möglichkeit hat Entscheidungen Schritt für Schritt nachzujustieren oder falsche Entscheidungen ganz aufzuheben, ohne – jedenfalls als System – an Autorität einzubüßen. Gleichzeitig wäre jetzt noch Popper zu bringen pure Kraftmeierei. 😉