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Gesellschaft & Politik

Ein unerbittliches Unternehmen

Ausgeliefert – Amerika im Griff von Amazon
von Alec MacGillis, aus dem Englischen übersetzt von Tobias Schnettler und Ben Schröder
S. Fischer, 448 S., 26,00 €

Die beiden Städte liegen kaum 60 Kilometer auseinander – und doch trennt sie eine ganze Welt: Hier Washington D.C., Hauptstadt der USA, reich geworden durch Lobbyismus und die Nationale Sicherheits-Industrie, dort Baltimore, die alte Hafen- und Industriestadt, arm geworden durch Werksschließungen und Deindustrialisierung.
Während in Washington Wohnraum Mangelware sei, die Einwohner:innen hohe Mieten und lange Fahrtstrecken in Kauf nehmen müssten, werden in Baltimore intakte Häuser abgerissen, weil sich keine Bewohner:innen mehr finden. Der Treppenwitz: Die Backsteine der abgerissenen Häuser werden teilweise nach Washington verkauft – um den dortigen Neubauten jenen Vintage-Style zu verleihen, der bei den dort wohnenden Aufsteiger:innen so beliebt ist.
Es sind Geschichten wie diese, mit denen der aus Baltimore stammende Journalist Alec MacGillis in seinem Buch Ausgeliefert – Amerika im Griff von Amazon das Bild eines Landes heraufbeschwört, in dem sich Arbeitsplätze, Wohlstand und Lebenschancen immer stärker auf wenige Zentren konzentrieren, während der Rest des Landes abgehängt wird.
„Regionale Ungleichheit sorgt dafür, dass sich die verschiedenen Teile des Landes zunehmend fremd werden.“ – Das hat auch politische Folgen: Die Demokraten seien im Lauf der Zeit zur Partei der städtischen Aufsteiger:innen geworden – und dabei haben sie jene abgehängten Regionen mehr und mehr aus den Augen verloren. Selbst die Wahl Donald Trumps 2016 hat bei den Demokraten nicht zu einem Umdenken geführt: „Anstatt darüber nachzudenken, welche Rolle ihre eigene Distanz zu abgehängten Regionen bei der Wahl gespielt haben könnte und entsprechende Korrekturmöglichkeiten zu erörtern, schlagen viele Liberale in ihren wohlhabenden Refugien entschieden in die entgegengesetzte Richtung“ – und diskutieren nun, ob die Menschen in jenen Regionen nicht einerseits selbst Schuld an ihrer Misere seien und andererseits ohnedies eine Neigung zum Autoritarismus gefasst hätten.1

Verantwortlich für das Entstehen dieser extremen Ungleichheit seien zahlreiche US-Unternehmen, die zuerst ihre Produktion ins Ausland verlagert haben und dann mit ihren Unternehmenszentralen in bestimmte Zentren, wie New York City, Washington D.C. und die ‚Bay Area‘ um San Francisco, sowie nach Seattle gezogen sind.
Dass MacGillis Amazon als Beispiel gewählt hat, hat eine einfachen Grund: „Amazon bietet den idealen Rahmen zum Verständnis des Landes und seiner Entwicklung, weil es exemplarisch für viele Unternehmen steht und uns ermöglicht, diese zu verstehen.“
Die Grundidee des Amazon-Gründers Jeff Bezos sei recht harmlos gewesen: „Er wollte sich die rapide wachsenden Aktivitäten im World Wide Web zunutze machen, […] um dort Konsumartikel zu verkaufen“ – und damit möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen.
Das habe Bezos zu einer Reihe pragmatischer und leidenschaftsloser Entscheidungen geführt: Für Bücher als erste angebotene Ware hat er sich entschieden, weil sie sich einerseits unproblematisch lagern und versenden lassen und es andererseits „so unendlich viele Titel [gibt], dass ein Onlinehändler gegenüber dem Einzelhandel einen Vorteil genoss, den er bei anderen Waren nicht hatte.“2Auch dass Amazon seinen Sitz nicht in San Franciscos Bay Area nahm, war kühl kalkuliert: Ein US-Unternehmen muss nur für Verkäufe in dem Bundesstaat Umsatzsteuer auf seine Preise aufschlagen, in dem es auch eine Niederlassung hat. Durch die Wahl des Standortes im kleinen Bundesstaat Washington konnte Bezos auch den riesigen kalifornischen Markt bedienen, ohne dort Umsatzsteuer erheben zu müssen – ein echter Wettbewerbsvorteil.3
Zudem war Seattle schon damals ein gutes Pflaster, um IT-Expert:innen anzuwerben: Um die dortige Microsoft-Zentrale hatte sich ein ganzes Ökosystem von anderen IT-Unternehmen entwickelt, wodurch ein attraktiver Arbeitsmarkt für IT-Expert:innen entstanden war. Ein gutes Argument potentielle Mitarbeiter:innen zum Umzug nach Seattle zu bewegen; denn obwohl diese Expert:innen von überall arbeiten können, war der Standort für sie wichtiger geworden als je zuvor: „Denn für die Angestellten in einer schnelllebigen Branche wie dieser war es sinnvoll, dort zu sein, wo man nach der Kündigung rasch wieder einen guten Job fand.“
Für Seattle hatte das gravierende Folgen: Die ehemals etwas verschlafene, aber günstige und kreative Großstadt an der Westküste hatte durch den Zuzug von Microsoft einen bescheidenen Aufschwung genommen, von dem auch die angestammte Bevölkerung profitierte.
Das änderte sich durch den Zuzug und die Expansion von Amazon: Massenweise gut dotierter Stellen im IT-Bereich wurden geschaffen – und die Stelleninhaber verdrängten die ursprünglichen Bewohner:innen aus ihren Vierteln, die es sich nun einfach nicht mehr leisten konnten dort zu wohnen; inzwischen gehört Seattle zu den teuersten Großstädten der USA, auf Augenhöhe mit der Bay Area und New York.

Zu den Verlierern dieses Konzentrationsprozesses gehören zum Beispiel Städte wie Dayton in Ohio oder Baltimore in Maryland , aus denen in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr gut dotierte Stellen und damit auch Einwohner abgewandert sind.
Dayton, einst ein hoch innovatives Industriezentrum, in dem die Gebrüder Wright ihr Fahrradgeschäft hatten und den ersten Motorflug wagten, verlor in den Nullerjahren den Großteil seiner Industriebetriebe. Autozulieferer und ein GM-Werk wurden geschlossen – und der seit über einem Jahrhundert in Dayton ansässige Registrierkassenhersteller National Cash Register verlegte seine Zentrale nach Atlanta. In nur einem Jahrzehnt zogen ganze 25.000 Einwohner (über 10%!) aus Dayton weg.4
Dieser Abstieg wurde auch nicht dadurch gebremst, dass sich in Dayton zahlreiche Logistikunternehmen und Kartonhersteller ansiedelten: Denn die dadurch geschaffenen Jobs sind schlecht bezahlt und prekär, weil die Arbeitnehmer:innen leicht zu ersetzen sind; ein gesichertes Auskommen oder gar einen Aufstieg in die Mittelschicht erlauben solche Stellen nicht.
Ein anderes Beispiel – MacGillis liefert in seinem Buch weitere – ist seine Heimatstadt Baltimore: Von dort erzählt er die Geschichte des ehemaligen Stahlwerks ‚Sparrows Point‘, das im Laufe der Jahrzehnte zu einem der größten der USA herangewachsen war und seinen Mitarbeiter:innen – nach harten Kämpfen – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein gutes und sicheres Auskommen geboten hatte. Natürlich war die Arbeit im Werk hart, aber die Arbeiter:innen, mit denen MacGillis gesprochen hat, beschreiben sie auch als erfüllend.
Doch auch ‚Sparrows Point‘ wurde im Laufe der Nullerjahre geschlossen – und auf dem Werksgelände entstand ein Logistik-Park; mit von der Partie: Amazon, das größte Logistik-Unternehmen der USA.
Die Arbeit in dessen ‚Fullfillment-Centern‘ genannten Lagern beschreiben die Mitarbeiter:innen als alles andere als erfüllend:5 Ursprünglich mussten die Mitarbeiter:innen als ‚Picker‘ viele Kilometer pro Schicht durch die Regalreihen laufen und Waren zusammensuchen. In den neuen Lagern kommen die Regale zu den Mitarbeiter:innen gefahren – was diesen das Laufen erspart, die Arbeit aber noch eintöniger, fast roboterhaft macht.
Hinzu komme, dass die Mitarbeiter:innen auf Schritt und Tritt überwacht werden: Ständig wird die Leistung der Mitarbeiter:innen gemessen. „Produktivität der Arbeit und Dauer der ungenutzten Zeit“ können genau ermittelt und unproduktive Arbeiter:innen vom Computer automatisch zur Kündigung vorgeschlagen werden. Amazon hält sogar das Patent auf ein Armband, „das jede Bewegung der Arbeiter aufzeichnen konnte und sie per Vibration warnen konnte, wenn es verzeichnete, dass sie nicht arbeiten.“
Außerdem sind die Lager so aufgebaut, dass „der Grundriss und die Algorithmen auch dazu gedacht waren, die Angestellten voneinander zu isolieren.“ So verhinderte Amazon sehr wirksam, dass die Mitarbeiter:innen gemeinsam ihre Interessen gegen den Konzern vertreten – und sei es nur zur Reduktion des Leistungsdrucks oder zur Erhöhung der Arbeitssicherheit.
Die ist in den Amazon-Lagern nämlich unterdurchschnittlich: In den Lagern besteht eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit für einen schweren Unfall wie in vergleichbaren Logistikbetrieben.

Trotzdem hofiert der Staat Amazon: Um die Ansiedlung von Lagern und Rechenzentren – Amazon Web Services ist einer der weltweit größten Anbieter von Cloud-Speicher – gibt es regelrechte Wettbewerbe, bei dem die Städte und Bundesstaaten sich mit Steuervergünstigungen und Subventionen überbieten.
Einen vorläufigen Höhepunkt habe dieser Wettbewerb erreicht, als Amazon einen Standort für ein zweites Hauptquartier gesucht habe. Viele Städte bewarben sich und machten dem Unternehmen großzügige Angebote; doch am Ende ging das ‚HQ2‘ an einen Vorort von Washington D.C., der dafür über mehrere Jahre verteilt auf gut 750 Millionen Dollar an Steuereinnahmen verzichtet.
Dass der Inhalt solcher Deals publik wird, ist die Ausnahme. In der Regel besteht Amazon auf der Geheimhaltung von Details. Wie die Steuervermeidung scheint auch die „explizite Ablehnung des Grundsatzes der Transparenz beim Einsatz öffentlicher Gelder“ seit seiner Gründung in der DNA des Unternehmens verankert zu sein.
Das gelte auch, wenn es um Aufträge der öffentlichen Hand geht. Hier habe Amazon sich anfangs schwer getan, aber die Etablierung seines ‚Market Place‘, auf dem Amazon die Produkte anderer Unternehmen anbietet und für diese die Logistik übernimmt,6 und vor allem die Abwerbung der Leiterin der amerikanischen ‚General Service Administration‘ habe die Wende gebracht. Mit ihren Erfahrungen und Kontakten gelang es „[der] Person, die bisher 450 Milliarden an Staatsgeldern für Beschaffung kontrolliert hatte“, ihrem neuen Arbeitgeber ein großes Stück dieses Kuchens zu sichern – und das obwohl Amazon weder eine transparente Preisstruktur hat noch Mengenrabatte gewährt.
Wie wenig das Unternehmen bereit ist, seinen Beitrag zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben zu leisten, zeigt MacGillis an einem Beispiel aus Amazons Heimatstadt Seattle: Obwohl es in der Stadt viele gut dotierte Stellen gibt und obwohl mit Microsoft und Amazon zwei riesige Konzerne dort ihren Sitz haben, fehlte Seattle in der Vergangenheit das Geld, um einen angemessenen Bus- und Bahn-Verkehr einzurichten und ausreichend Sozialwohnungen zu bauen.7
Die Stadtverordneten hatten daher eine maßvolle Steuer auf Arbeitsplätze beschlossen. Doch schon das war Amazon zu viel: Das Unternehmen drohte, nicht weiter in den Standort Seattle zu investieren oder gar sein dortiges Hauptquartier zu verkleinern – und war erfolgreich: Die Ratsmitglieder kippten nach wenigen Tagen ihre eigene Entscheidung wieder.
Dem Wachstum Amazons hat diese Aktion nicht geschadet, denn „für den Konsumenten ist es fast unmöglich, den Schaden, den Amazon anrichtet in Echtzeit zu erfassen“ – und selbst wenn er das könnten, stellt sich die Frage, ob ihm ‚Prime Service‘ und ‚One-Click-Checkout‘ nicht wichtiger sind.
„Das Schicksal des Unternehmens und der Nation hätten sich in komplett gegengesetzte Richtungen entwickelt,“ stellt MacGillis fest. Am Ende wäre es für die ganzen USA – auch Städte wie Seattle oder New York – besser, wenn der Reichtum sich wieder gleichmäßiger über das ganze Land verteilte.

Anmerkungen:

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: William Charles Morris creator QS:P170,Q24051732, WCMorris Spokesman-Review cartoons 123, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.

1 Ein Beispiel für diese Neigung könnte Anne Applebaum sein, die jüngst ein Buch mit dem Titel Twilight of Democracy – The Seductive Lure of Autoritarism veröffentlich hat, das wiederum Jason Lears mit seinem Artikel The Orthodoxy of the Elites im New York Review of Books (Nr. 1/2021 vom 14.01.2021) aufs Schärfste verrissen hat – und ihr genau das, was MacGillis für die demokratische Elite andeutet, explizit vorgeworfen hat.

2 Ich stelle mir hier die Frage, ob es in den USA das System des Zwischen- und Sortimentsbuchhandels gibt; in Deutschland kann dadurch praktisch jeder Buchhändler jedes bei seinem Zwischenbuchhändler eingelagerte Buch innerhalb von 24 Stunden für seinen Kunden besorgen.

3 MacGillis kolportiert ein Gerücht, dass Bezos überlegt habe sein Unternehmen in einem Indianerreservat zu gründen – denn dort fallen gar keine Steuern an; betrachtet man Bezos generell ablehnendes Verhältnis zu Steuern und Staat, bleibt einem das Lachen ein wenig im Halse stecken. Immerhin ist positiv hervorzuheben, dass er keine Kirche gegründet hat.

4 Dayton hat zwischen 2000 und 2010 – laut MacGillis – 25.000 seiner zuvor 166.000 Einwohner verloren, also etwa 15 %; und das ist nur ein Ausschnitt: Im Jahr 1980 hatte Dayton 203.000 Einwohner, im Jahr 2020 waren es 137.000.

5 Diese Bezeichnung ist irreführend: Der Zweck eines Fullfillment-Centers ist es, die Bedürfnisse der Amazon-Kunden zu erfüllen – und vor allem das Bedürfnis von Jeff Bezos nach Mehrung seines beträchtlichen Vermögens. Die Bedürfnisse und das Wohl der Mitarbeiter:innen scheinen dagegen keine erkennbare Rolle zu spielen.

6 Es wird im Buch auch ausführlich auf den ‚Market Place’ und seine Auswirkungen auf den lokalen Handel und lokale Lieferketten eingegangen. Hier nur so viel: Die Bedingungen des ‚Market Place‘ sind sehr vorteilhaft – für Amazon.

7 Der Bundesstaat Washington erhebt – laut MacGillis – keine Steuern auf Einkommen und Unternehmensgewinne.