Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt
von Katja Diehl
S. Fischer, 266 S., 18,00 €
Ein sicherer Griff ins Bücherregal, ein Blick ins Kursbuch – und schon sitzen Sherlock Holmes und Dr. Watson im Zug, unterwegs zu einem neuen Fall irgendwo in Großbritannien. Für die letzte Meile benutzen die Detektive Kutschen – je nach Umständen einen brougham, hansom, dog-cart oder landau –, die U-Bahn oder gehen gleich zu Fuß. Die unbefangene Leser:in mag überrascht davon sein, wie mobil die beiden Detektive sind – und all das lange bevor die Autos die Straßen eroberten.1
Beim Lesen solch alter Geschichten kann man feststellen, wie sehr Mobilität inzwischen zu Automobilität geworden ist und wie sehr das Auto nicht nur unsere Städte und Dörfer dominiert, sondern auch unser Denken.
Genau darauf macht Katja Diehl in ihrem Buch Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt aufmerksam und fordert: „Jede:r soll das Recht haben, ein Leben ohne eigenes Auto führen zu können.“
Für viele Menschen sei das eigene Auto eine Last, die sie schultern, weil sie sonst nicht zur Arbeit kommen, weil sie unterwegs die Kinder noch schnell zur Kita bringen müssen, weil sie sich abends in der S-Bahn nicht sicher fühlen oder weil der Einstieg in den Bus für sie eine kaum zu überwindende Barriere ist. Das eigene Auto dagegen ist zwar flexibel, sicher und barrierefrei, gleichzeitig ist es anstrengend damit durch die Gegend zu fahren, nervig damit im Stau zu stehen und teuer ist es außerdem: Anders als Öffentliche Verkehrsmittel – die es zum Festpreis gibt – ist das eigene Auto ein unkalkulierbares Kostenrisiko.
Diese (oft erzwungene) Autofixierung führt zu einer Reihe von Kollateralschäden, die in städtischen Räumen am sichtbarsten werden.
Die Straße war schon immer hierarchisch gegliedert; die Bilder von antiken Bürgersteigen und Zebrastreifen2 haben mich schon als Schüler fasziniert. Doch erst das massenweise Auftreten von Autos machte diesen Gegensatz zum Problem: Denn nun wurde die Fahrbahn zu einem Raum, der den Autos exklusiv vorbehalten war – und den alle anderen Verkehrsteilnehmer:innen selbst dann nicht benutzen durften, wenn gar kein Auto in Sicht war. Dies wurde – spätestens seit den 1950er Jahren – durch eine Stadt- und Verkehrsplanung unterstützt, die „schnelle und komplikationslose Durchfahrt“ zu ihrem obersten Ziel machte. „Der heute nicht durchbrochene Kreislauf aus mehr Straßen für mehr Autos, die wiederum für mehr Autos sorgen, setzte ein.“
Das Konzept der ‚autogerechten Stadt‘ trennt außerdem die zum Wohnen und Arbeiten bestimmten Gebiete fein voneinander – und lagerten die Freizeitaktivitäten gern noch in ein drittes aus; große Einkaufszentren am Ortsrand kamen später dazu. Die Folge war: Die Bewohner:innen mussten immer längere Wege zurücklegen und der Autoverkehr geradezu explodierte geradezu, weil sie immer weniger dieser Wege zu Fuß oder mit anderen Verkehrsmitteln zurücklegten.
Gleichzeitig wurden nicht nur immer mehr Straßen gebraucht, sondern auch immer mehr Parkplätze; denn das durchschnittliche Auto wird nur ca. 45 Minuten am Tag bewegt, braucht aber mindestens zwei Parkplätze – und so eroberte der ruhende Verkehr einen Großteil der knappen Räume, die der fließende nicht in Anspruch nahm.
Für soziale Interaktionen steht dieser Raum nicht mehr zur Verfügung; weil weniger Menschen zu Fuß gehen oder Rad fahrenverlieren Läden Laufkundschaft und müssen schließen, die soziale Interaktion nimmt ab und die Städte verlieren das menschliche Maß.
Dem setzt Diehl die Vision einer Stadt der kurzen Wege entgegen, in der die Stadtviertel wieder mehrere Funktionen haben und die Wege so kurz werden, dass sie ohne Auto zurückgelegt werden können; gerade diese Funktionsmischung sei wichtig, denn nichts mache Straßen (subjektiv und objektiv) sicherer als die Anwesenheit anderer Menschen. „Eine gute Stadt ist wie eine gute Party: Die Gäste bleiben, weil es ihnen gefällt,“ schreibt der dänische Stadtplaner Jan Gehl in seinem Buch Städte für Menschen – die Reduktion des Autoverkehrs ist dafür eine wichtige Zutat.3
Gleichzeitig tauchen in Diehls Buch immer wieder Aussagen auf, die mich irritieren. Ginge es allein um ärgerliche Flüchtigkeiten und sprachliche Ungenauigkeiten, wie das schiefe Bild vom „nachkriegszerstörten Deutschland“, um ungenaueGegenüberstellungen wie die von „Dampfkraft“ und fossilen Antrieben oder um zweifelhafte Behauptungen wie der Bezeichnung der Internationalen Automobilausstellung 1951 als „erste[m] Meilenstein für das Autoland Deutschland“ könnte ich leicht darüber hinweggehen,4 ;aber die Verwirrung betrifft inhaltliche Punkte, die mir wichtig sind.
So schreibt Diehl zum Beispiel über Kinder und Straßenräume, dass die Erwachsenen sie „diesen Räumen [ausliefern], da sie kein Recht zur Mitgestaltung haben.“ – Mir fehlt hier eine klare Distanzierung von dieser Praxis und die Forderung, Kinder und Jugendliche in Planungsprozesse einzubeziehen, ihren Bedürfnissen möglicherweise sogar Vorrang zu gewähren, wie vom Projekt „Spielleitplanung“ vorgeschlagen;5 von Kindern und Jugendlichen konsequent nach ihren Bedürfnissen& geplante Räumepriorisieren „die verletzlichen Gruppen außerhalb motorisierter Fahrzeuge“ – und entspräche damit Diehls Vision einer kinderfreundlichen, barrierearmen und entschleunigten Stadt erstaunlich gut.
Meine Irritation an diesem Punkt verstärkt sich, wenn Diehl später vorschlägt „die Bewohner:innen nicht zu ihrer Meinung über potentielle Veränderungen zu befragen, sondern stattdessen mit vollendeten Tatsachen zu konfrontieren und ihnen dann zu ermöglichen das Neue zu gestalten.“ – Ich wüsste schon gern genauer, inwiefern Diehl die Bewohner:innen in die Gestaltung ihres Lebensraumes einbezogen sehen möchte – ich hätte mir von Diehl eine deutliche Klarstellung gewünscht: Autokorrektur istnur als demokratischer Prozess denkbar ist und die Bewohner:innen von Anfang an bei der Gestaltung ihres Lebensraumes zu beteiligen sind; als obrigkeitliche Zwangsbeglückung würde ich sie ungeachtet aller Vorzüge ablehnen. Denn es gibt kein richtiges Leben im falschen – und es gibt keine richtigen Entscheidungen, die nicht demokratisch und unter Beteiligung der Betroffenen gefällt werden.
Diese Frage ist auch deswegen nicht trivial, weil Diehl die Bedeutung ihres Ansatzes über die bloße Verkehrsplanung hinaus denkt: Es geht ihr nicht nur darum, die Hierarchien auf der Straße zu beseitigen, sondern auch die Hierarchien in der patriarchalischen Gesellschaft.
Gleichzeitig scheint Diehl den emanzipatorischen Effekt ihres Projektes zu überschätzen: Sicher kann eine Verkehrsplanung die nicht das Auto, sondern Fußgänger und Radfahrer ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt ein Baustein sein, die patriarchalische Gesellschaft zu überwinden, gesellschaftliche Machtgefälle zu vermindern und die verbleibenden gerecht zu verteilen. Doch im selben Moment sollte uns klar sein: Wahlfreie Mobilität, eine Reduktion des Autoverkehrs und besser geplante urbane Räume wären selbst dann noch ein riesiger Gewinn, wenn sie all das nicht leisten könnten – und sie sind auch ein Gewinn für die Lebensqualität derjenigen, die die patriarchalische Gesellschaft nicht ablehnen, sondern sie akzeptieren oder fördern.
MitAutokorrektur liefert Diehl ein überzeugendes Plädoyer für eine wahlfreie Mobilität ohne eigenes Auto. Zugleich bleiben ihre Ideen für die konkrete Umsetzung vor Ort ein wenig vage, obwohl sie ziemlich am Anfang des Buches feststellt: „Unser Land hat in Sachen Verkehrswende kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.“
Ich hätte mir daher ein etwas technischeres Buch gewünscht, dass nicht nur eine attraktive Vision liefert, sondern auch& beispielhaft erzählt, wie Stadtplaner:innen attraktive, sichere und barrierearme öffentliche Räume schufen, indem sie die Vorherrschaft des Autos überwanden.
Denn am Ende wird die Verkehrswende nur dann gelingen, wenn sie auch diejenigen mit auf die Reise nimmt, die im Augenblick noch zögern und unsicher sind, ob sie sich wirklich auf einen Weg begeben wollen, an dessen Ende das eigene Auto ein Luxusgutsein wird, das sich immer weniger Menschen leisten& werden – zumal wenn noch die von Diehl zu recht kritisierten Privilegien, wie Kaufprämien und die Steuerbegünstigung von Dienstwagen wegfallen.
Bei richtiger und kluger Umsetzung muss das aber nicht zu untragbaren Nachteilen führen: Denn das Ziel von Diehl ist es ja nicht primär das Auto zu verteuern, sondern Mobilität im Rahmen staatlicher Daseinsvorsorge für alle zur Verfügung zu stellen, ohne dass sie ein eigenes Auto besitzen müssen.
Schon das allein macht das eigene Auto zum Luxusgut, denn ein eigentlich überflüssiger Gegenstand, der meist rumsteht und bestenfalls noch ein diffuses Gefühl von Freiheit schafft: Der ist Luxus, egal was er kostet.
Dass die von Diehl skizzierte Umgestaltung von Verkehrssystem (und Gesellschaft) auch intendiert, dass hohe Einkommen und große Vermögen ihren angemessenen Beitrag zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben zu leisten haben, sagt Diehl nicht explizit – gleichzeitig habe ich es als selbstverständlich vorausgesetzt.
Anmerkungen:
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Baron Raimund von Stillfried creator QS:P170,Q79109, Raimund von Stillfried-Rathenitz Innere Mariahilferstraße 1890s, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
1 Ich bin mir bewusst, dass die Mobilität von Holmes und Watson auch ein Muster ist für das Mobilitätsverhalten von männlichen Angehörigen der britischen Oberschicht der Jahrhundertwende.
2 Bild eines ‚Zebrastreifens’ in Pompeji:

3 Das Buch Städte für Menschen von Jan Gehl, erschienen bei Jovis, ist eine sehr gute Ergänzung zu Diehls Buch; denn der dänische Stadtplaner Gehl zeigt anhand zahlreicher Beispiele und Bilder wie attraktive, sichere und barrierearme öffentliche Räume aussehen könnten.
4 Der Klarheit halber: Deutschland war kriegszerstört, nicht „nachkriegszerstört“. Beim „Dampfantrieb“ kommt es entscheidend darauf an, wie der Dampf erzeugt wird; in der Zeit, von der Diehl schreibt, war (der fossile Brennstoff) Kohle ein klassisches Brennmaterial. Der „erste Meilenstein für das Autoland Deutschland“ scheint mir doch eher die Erfindung des Automobils durch Carl Benz und Gottlieb Daimler gewesen zu sein; um das Auto lässt sich eine sehr nationale Erzählung in Deutschland weben – was vielleicht auch erklärt, warum es für die Deutschen ein Fetisch ist, der zum Beispiel mit dem Waffenfetisch der US-Amerikaner zu vergleichen ist.
5 „Spielleitplanung“ ist ein Projekt aus Rheinland-Pfalz, bei dem eine Gemeinde als einheitlicher Spiel- und Erlebnisraum für Kinder betrachtet wird; besonders wichtig dabei ist die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen, sowie das am Ende Planung steht, die für die Gemeindegremien im Weiteren verbindlich ist.