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Gesellschaft & Politik

Die zwei Gesichter der Christdemokratie

Die dunkle Seite der Christdemokratie – Geschichte einer autoritären Versuchung
von Fabio Wolkenstein
C. H. Beck, 222 S., 16,95 €

Die Christdemokratie spielte beim Wiederaufbau Europas nach dem zweiten Weltkrieg eine tragende Rolle – und wurde in vielen Ländern zur einflussreichsten Spielart des Konservatismus. Ihr Angebot war so einfach wie überzeugend: „Statt ein utopisches Projekt zu bewerben, forderte sie eine Rückbesinnung auf christliche Werte, Anstand und Moral.“
Es gelang ihr, eine christlich-konservative Politik mit einem klaren Bekenntnis zur Demokratie zu verbinden. Damit leistete sie einen wesentlichen Beitrag zum Erfolg der europäischen Nachkriegsdemokratien.
Gleichzeitig steht diesem freundlichen Gesicht eines kommoden Konservatismus ein zweites, weniger freundliches gegenüber: Ein autoritärer Geist, der sich zum Beispiel in dem Wunsch zeigte, Diktatoren wie Franco und Salazar als Teil der „christlich-abendländischen Wertegemeinschaft“ zu akzeptierten* oder in einem angespannten Verhältnis zur Presse, wie es in der Spiegel-Affäre offenbar wurde.
Bis heute fällt es der Christdemokratie bisweilen schwer, sich nach rechts abzugrenzen. Das Erstarken von national-konservativenund rechtspopulistischer Parteien bedeutet für sie daher eine besondere Herausforderung. Sogar den klar autoritären Victor Orbán hat sie viel zu lange als einen der ihren akzeptiert.
Dieses zweite Gesicht der Christdemokratie beleuchtet der österreichische Politikwissenschaftler Fabio Wolkenstein in Die dunkle Seite der Christdemokratie – Geschichte einer autoritären Versuchung; er stellt fest: „Die Christdemokratie kann sich unter Rückgriff auf ihre eigene Vergangenheit und ideologischen Ressourcen weit über die Mitte nach rechts ausstrecken.“ 

Wolkenstein beginnt seine Bestandsaufnahme mit einem Blick in die Geschichte der heutigen Christdemokratie. Diese reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück und beginnt im Zeitalter der Französischen Revolution, als der moderne Staat entstand und die Trennung von weltlicher und geistlicher Macht, von Imperium und Sacerdotium, zu seinen Gunsten aufhob. 
Die katholische Kirche stemmte sich gegen diese Entwicklung. „Der Kampf gegen Parlamentarismus und Demokratie wurde vom Papst persönlich legitimiert, ja regelrecht ermutigt.“ 
Erst als Rom von dieser Ablehnung langsam abrückte, konnte ein politischer Katholizismus als pragmatische Antwort auf den modernen Staat entstehen: Sein Ziel war es, christliche Werte auf politischem Wege in parlamentarische Entscheidungen und staatliches Handeln einzuweben.
Er arrangierte sich zum Beispiel mit dem Kapitalismus und forderte lediglich die durch ihn entstehende Ungleichheit erträglicherzu gestalten. Viel Raum für gesellschaftliche Mobilität lässt dieser Klassenkompromiss nicht – denn am besten bleibt jeder bei seinem Leisten.
Ein weitere Gedanke erwies sich dabei als hilfreich: Die Organisation von Herrschaft sei von jeher zeit- und ortsgebunden. Es gibtnicht die ideale Staatsform, sondern allenfalls die den Umständen entsprechende – und die hatte sich den zeitlosen Werte des christlichen Glaubens unterzuordnen.
So konnten sich die christdemokratischen Parteien gut mit den Vorkriegsmonarchien arrangieren. Dies änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg, als in Deutschland und Österreich die Monarchien durch Republiken ersetzt wurden. 
Der progressivere Teil des politischen Katholizismus, der zugleich für Sozialreformen eintrat, arrangierte sich sofort mit der Republik – blieb jedoch eine Randerscheinung.
Die beiden wichtigen Strömungen des politischen Katholizismus – Wolkenstein bezeichnet sie als „demokratischen Konservatismus“ und „modernen-autoritären Konservatismus“ – blieben viel reservierter: Während die erste Strömung auskonservativen Überzeugungs- und Vernunftdemokraten bestand, war die zweite klar antidemokratisch und strebte einen autoritär regierten Ständestaat an. 
In den 1930 er Jahren – einem Jahrzehnt geprägt von ratlosen Demokratien und scheinbar erfolgreichen Diktaturen – dürfte so mancher konservativer Vernunftdemokrat eine Neigung zu autoritären Herrschaftsformen entwickelt haben. Dem erstarkenden Faschismus hatten sie wenig entgegen zu setzen.

Erst in der Endphase des Zweiten Weltkriegs setzte ein Umdenken ein: Die Zeit für eine christliche Demokratie als dritter Weg zwischen Totalitarismus und Liberalismus schien gekommen; denn sie wurde als Garant der von beiden Ideologien gleichermaßen bedrohten individuellen Menschenwürde gesehen. „Tonangebend waren religiös fundierte Ideologieströmungen, die sich klar vom säkulären Staats- und Gesellschaftsverständnis abgrenzen wollten.“
Zur Absicherung dieses Weges wurde dem Gesetzgeber eine christlich fundierte Verfassung vorgesetzt, die nur mit qualifizierter Mehrheit abgeändert werden konnte und die durch ein starkes Verfassungsgericht gehütet wird.
Wolkenstein kritisiert ein solches Verfassungsgefüge als undemokratisch – und geht damit etwas zu weit: Was spricht dagegen, die in einer Verfassung niedergelegten Wert- und Organisationsentscheidungen dem einfachen Gesetzgeber zu entziehen und ein Gericht als Schiedsrichter einzusetzen? – Jedenfalls so lange es eine funktionierendes Verfahren zu Änderung der Verfassung gibt und die Verfassung keine Ewigkeitsgarantie hat.**
Vor diesem Hintergrund betrachtet Wolkenstein auch die europäische Integration als ein christdemokratisches Projekt, das durch wirtschaftliche Integration die Anziehungskraft des Kommunismus brechen und den dritten Weg der christlichen Demokratie absichern sollte.
Dieses goldene Zeitalter der Christdemokratie endete in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren: Auf einmal war eine progressive Politik wieder gefragt. „Der Zeitgeist verlangte mehr Offenheit für neue säkuläre, liberale und konservative Impulse.“ Daher trieb eine Reihe junger Christdemokraten – unter ihnen Helmut Kohl – eine tiefere Demokratisierung ihrer Parteien voran und eine Hinwendung zu liberalen Werten.
Die christdemokratischen Parteien verstanden sich nun verstärkt als gemäßigt konservative Parteien mit wirtschaftsliberalen Einschlag; und gerade die Wirtschaftspolitik der Christdemokraten wandelte sich: Hin von einem christlichen Sozialismus zum bestenfalls leicht gezügelten Kapitalismus.
Mit diesem neuen Profil konnte zudem die christdemokratische Parteienfamilie in Europa um konservative und wirtschaftsliberale Parteien erweitert werden. Der Preis war eine massiver Bedeutungsschwund christlich-sozialer Werte – „eine ideologische Entkernung, die schließlich in der ‚Überdehnung‘ der christlichen Parteienfamilie resultierte.“

Das Erbe der Christdemokratie bleibt zwiespältig. Sie war schon immer ein „Komplex der Gegensätze“ – und bleibt es. Ihre Fähigkeit, Widersprüche in sich zu vereinen, ohne sie aufzulösen kommt an ihre Grenzen – und ermöglicht es national-konservativen und rechtspopulistischen Parteien, sich bei ihrem Versuch autoritäre Regime zu errichten, auf das Erbe des politischen Katholizismus zu berufen. Die eigentliche Christdemokratie hat diesen Erbschleichern wenig entgegen zu setzen.
Denn die Christdemokraten sind uneinig, wie sie mit den Herausforderungen des neuen Jahrtausends umgehen wollen: Auf Fragen wie Klimawandel oder soziale Ungerechtigkeit fallen ihre Antworten dürftig aus, während sie gleichzeitig populistische Steckenpferde reiten, wie die geradezu obsessive Ablehnung einer von Identitäts- und Verbotspolitik. Ob das auf die Dauer reicht, um weiterhin Wähler:innen aus der Mitte der Gesellschaft anzusprechen ist fraglich. 
Gleichzeitig gibt es keinen Grund das reformatorische Potential der Christdemokratie zu unterschätzen. Sie kann beherzt in die Mitte der Gesellschaft schreiten und dort Erfolge erringen: Die 16-jährige Kanzlerschaft von Angela Merkel ist dafür ebenso ein Beleg, wie der Erfolg von Daniel Günter bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein im letzten Jahr.
Doch damit solche Erfolge keine Einzelfälle bleiben, müsste sich die Christdemokratie mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, sich überzeugender nach rechts abgrenzen und Antworten auf die Fragen der Gegenwart liefern.
Das könnte ihr auch Gelegenheit geben, sich wieder den Kirchen anzunähern. Denn die versuchen ihrerseits Antworten auf diese Fragen zu finden – und haben inzwischen oft mehr zu bieten als die halbherzig agierende Christdemokratie.
Doch genauso kann die Christdemokratie sich in die andere Richtung bewegen und selbst zur national-konservativen Partei mit rechtspopulistischem Einschlag werden. In gewisser Weise wäre das eine Annäherung an Positionen, die in christlichen Parteien vor dem Zweiten Weltkrieg vertreten wurden – und damit eine Rückkehr zu vermeintlich längst überwundenen Gewohnheiten oder mit anderen Worten: „Weimar calling.“***

Anmerkungen:

Diese Besprechung wurde am 02.04.2023 als TimsBücher 2022#11 unter dem Datum des 24.06.2022 veröffentlich.

Ich danke dem Verlag C.H. Beck für das mir kostenlos überlassene Rezensionsexemplar.

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Magnussen, Friedrich (1914-1987), CDU-Parteitag; Bundesparteitag der Christlich Demokratischen Union Deutschlands (CDU) in Hamburg (Kiel 13.095), CC BY-SA 3.0 DE

* Diese Auffassung wurde zum Beispiel von Konrad Adenauer, Franz Josef Strauß und dem italienischen Ministerpräsidenten Antonio Segni vertreten.

** Mit einem geeigneten Verfahren zur Änderung der Verfassung meine ich ein solches, dass zwar eine höhere Hürde als die einfache Mehrheit hat, gleichzeitig aber auch keine Hürden aufbaut, die im Normalfall als unüberwindlich erscheinen müssen. Ein klassisches Beispiel für die letztere Sorte ist die US-Verfassung, die so hohe Anforderungen Verfassungsänderungen stellt, dass diese ein oft Jahrzehnte währendes Projekt sind und trotzdem oft scheitern.

*** Das Zitat ist stammt aus dem Buch Radikalisierter Konservatismus (Frankfurt/M. 2021) von Natascha Strobl, das ich am 22.10.2021 besprochen habe (Lern S’ a bisserl Gegenwart, TimsBücher 2021#16).






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