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Gesellschaft & Politik

Industrielle Evolution

Industrielle Revolution 4.0 – eine historische Navigationshilfe
von Oliver F. R. Haardt, mit einem Geleitwort von Peter Altmaier
wgb Paperback, 208 S., 20,00 €

Betrachtet man die Geschichte der letzten zweihundert Jahre als Theaterstück, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass wir die Peripetie erreicht haben, jenen Wendepunkt, an dem die Handlung unvermeidlich auf die Auflösung der zuvor angelegten Konflikte umschlägt.
Dabei geht es uns wie den handelnden Personen im Stück: Noch wissen wir nicht, wie das Ende aussehen wird. Damit wir – anders als die tragischen Helden des Theaters – nicht durch unser eigenes Handeln unseren Untergang herbeiführen, sollten wir an diesem Wendepunkt „die Position, an der wir uns im Strom der Zeit befinden näher bestimmen.“
Mit seinem Buch Industrielle Revolution 4.0 – eine historische Navigationshilfe bietet der Historiker Oliver F. R. Haardt einenAngelpunkt für die Vermessung der Gegenwart; sein Instrument ist der „Kompass der Geschichte“.
Entstanden ist diese Navigationshilfe als Ergebnis einer zufälligen Begegnung im digitalen Raum: Über Twitter kam Haardt mit dem damaligen Wirtschaftsminister Peter Altmaier in Kontakt. Der beauftragte ihn nach einem längeren Briefwechsel, eine Handreichung für die Mitarbeiter seines Ministeriums zu erstellen, in der Haardt die Vierte Industrielle Revolution, den „technologiegetriebenen Weltenwandel,“ den wir gerade erleben, kulturhistorisch einordnet.

Den Begriff ‚Industrielle Revolution‘ hält Haardt für ungünstig, denn er „wird dem evolutionären Charakter industriellen Wandels nicht gerecht.“ Nicht ein großer Sprung nach vorn, sondern zwei Jahrhunderte voller kleiner und kleinster Schritte vor- und manchmal auch rückwärts haben nicht nur Güterproduktion und Transportwesen vollkommen verändert, sondern auch die Lebens- und Arbeitswelten des Menschen – und ihn zur entscheidenden Kraft einer neuen geologischen Epoche gemacht.
Die Grundlage dieses Transformationsprozesses sind technische Innovatione, die – bisher in fünf Wellen – immer wieder Wachstumsschüben ausgelöst haben. Der erste Impuls war die Einführung der Dampfmaschine. 
Das Aufkommen von Eisenbahn und Dampfschiffen löste die zweite große Innovationswelle aus; die Nutzbarmachung der Elektrizität, sowie das Entstehen der optischen und chemischen Industrie die dritte. Das Neue an dieser Welle war, dass sie weniger von Techniker und Tüftlern ausgelöst wurde, sondern das Ergebnis zielgerichteter (natur-)wissenschaftlicher Forschung war.*
Die nächste Welle entstand durch das massenhafte Aufkommen des Automobils und der Fließbandproduktion, die wiederum die Grundlage unserer heutigen Konsumgesellschaft ist.
Die bisher letzte Welle löste die Einführung und anschließend massenweise Verbreitung und Vernetzung von Computern aus. Diese Welle ist bisher ungebrochen, auch weil neue IT-Geräte noch immer innerhalb weniger Jahre technisch veraltet sind.
Ob, wie Haardt spekuliert, „das heraufziehende Zeitalter der künstlichen Intelligenz“ eine sechste Welle auslösen wird, ist offen. Das wird vermutlich vor allem davon abhängen, wie schnell die Grenzen und Risiken vieler Anwendungsbereiche von Künstlicher Intelligenz erkannt werden.**
Einen Transformationsprozess von so großer Weite und Tiefe konnten die technischen Innovationen nur auslösen, weil sie auf eine Wirtschaftsordnung trafen, in der selbst kleinste Verbesserungen einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil bedeuten können. Der Kapitalismus ist für Haardt der Motor dieses Prozesses. Mit seiner scheinbar grenzenlosen Fähigkeit, sich an veränderte Umstände anzupassen und Wachstum zu erzeugen, hat den Westen reicher gemacht als alle anderen Weltteile – und von diesem Reichtum haben auch die Armen profitiert.
Doch der Kapitalismus hat ein kaltes Herz. Die Gewinner belohnt er genauso übermäßig, wie er Verlierer erbarmungslos bestraft. Der Preis des Kapitalismus ist die Unsicherheit der eigenen Zukunft.
Der Sozialstaat mildert diese Ungewissheit; doch bin ich nicht sicher, ob Haardt erkennt: Auch Unternehmen schätzen diese Unsicherheit nicht; sie ziehen planbare Profite einem Konkurrenzkampf mit ungewissem Ausgang vor.

Inzwischen sei diese Art zu wirtschaften und die Natur dabei auszubeuten selbst ein Unsicherheitsfaktor geworden. Schon immer gestalteten die Menschen die Natur und schon immer war die Art wie Menschen (zusammen-)leben, auch von den natürlichen Rahmenbedingungen abhängig.
Doch „die mechanische Nutzbarmachung fossiler Energieträger hat dem menschlichen Streben nach Ausbeutung der Natur völlig neue Maßstäbe eröffnet.“ Die Nebenwirkungen fielen den Menschen bereits im 19. Jahrhundert auf; so entstanden zeitgleich mit der Industrialisierung erste Umweltbewegungen, die sich zum Beispiel für saubere Luft und sauberes Wasser einsetzten.
Seit den 1950er Jahren hat sich diese Entwicklung beschleunigt: Inzwischen ist der Mensch eine geologische Macht geworden und greift „derart in die geologischen, biologischen und atmosphärischen Prozesse [ein], dass er das planetarische Gesamtgeschehen verändert.“ Er nutzt nicht nur immer größere Flächen, sondern er beeinflusst biochemische Kreisläufe, greift z.B. durch Düngen in den Stickstoffkreislauf ein und verändert durch seine Emissionen die Zusammensetzung der Erdatmosphäre.
Um diesen menschlichen Einfluss kenntlich zu machen, haben die Geologen das Holozäon nach etwa 11.000 Jahren für beendet erklärt und den Beginn eines neuen Erdzeitalters festgestellt: das „Antropozäon“.
Der Mensch muss lernen, mit dieser neuen Macht umzugehen. Es wäre verhängnisvoll, den bisherigen Weg der unbegrenzten Emissionen fortzusetzen. Zugleich hält Haardt es für unwahrscheinlich, dass der Mensch fähig ist, seinen Lebensstil an die planetaren Grenzen anzupassen – und auf Wohlstand zu verzichten. Seine Lösung: Der Kapitalismus muss sich einmal mehr an die neuen Umstände anpassen und grün werden.
Leider geht Haardt hier ein wenig zu selbstverständlich davon aus, dass der Kapitalismus das kann. Das wird entscheidend davon abhängen, ob grünes Wachstum möglich ist. Sollte sich erweisen, dass die planetaren Grenzen auch grünen Wachstums begrenzen, wird ein auf Expansion angelegtes System wie der Kapitalismus keinen Bestand haben.
Sehr skeptisch bleibt Haardt zu Recht bei der Möglichkeit durch Geo-Engeneering Einfluss auf die Erderwärmung zu nehmen: Solche Ansätze wären nicht nur extrem teuer, sondern auch mit unabsehbaren Risiken verbunden.
Dennoch werden neue Technologien bei der Dekarbonisierung eine wichtige Rolle spielen – „zu allererst [braucht es] technologische Lösungen, die erneuerbare Energien in der Erzeugung, Speicherung und Verteilung günstiger machen.“ Schon dieser eine Satz umreißt angesichts des wachsenden Energiehungers des Menschen eine riesige Herausforderung.

Der industrielle Wandel hat nicht nur Wachstum und Wohlstand, Emissionen und Umweltzerstörung mit sich gebracht, sondern er hat auch das Denken und Empfinden des Menschen verändert. Deutlich wird das zum Beispiel am Wandel der Einstellung des Menschen zu Zeit und Raum.
Die Zeit wurde zu einer messbaren Größe und es entstand die Vorstellung von einer sich linear entwickelnden Zukunft, auf die man bauen, spekulieren und hoffen konnte.
Inzwischen hat die Zukunft längst begonnen: Informationen können über den ganzen Planeten hinweg in Echtzeit ausgetauscht werden und die Kosten der Kommunikation sind von der Distanz vollkommen entkoppelt. Der Raum verliert an Bedeutung und die Menschen rücken über die Kontinente hinweg immer näher zusammen.
Das hat gravierende Nebenwirkungen: Nachrichten verbreiten sich genauso schnell wie Lügen. Trends werden kurzlebiger und „die Auswahl dessen, was konsumiert werden kann, ist praktisch grenzenlos geworden.“
Bei vielen Menschen zeigen sich erste Anzeichen von Überforderung. Der Wunsch nach einfachen Erklärungen lässt den Populismus blühen, der ständige Blick auf die ganze Welt die Sehnsucht nach Heimat und ein Kapitalismus auf Steroiden den Wunsch nach Gerechtigkeit.
Gleichzeitig verheißen neue Erfindungen und Innovationen eine Fortsetzung und möglicherweise eine weitere Beschleunigung des Transformationsprozesses: Am Horizont scheint eine Zeit auf, in der intelligente Maschinen unsere Vorstellung vom Meschlichkeit immer mehr herausfordern und womöglich sogar die Menschenwürde in Frage stellen können
Doch Haardt bleibt vorsichtig optimistisch. Wenn der Mensch erkennt, „dass [er] durch seine industrielle Lebensweise längst zu einer geologischen Kraft geworden ist, die das Erdsystem verändert und so ein neues Kapitel der Erdgeschichte aufgeschlagen hat“, dann kann es ihm auch gelingen, dieses Kapitel positiv zu gestalten.
Mit dieser Erkenntnis haben wir gegenüber den tragischen Helden des Theaters einen entscheidenden Wissensvorsprung – und doch sollten wir die Herausforderungen vor uns nicht unterschätzen: Die Peripetie liegt in der Mitte des Stückes – und die Zeit bis zur endgültigen Läuterung kann lang werden, wenn das Theater in Flammen steht.

Anmerkungen:

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: August von Wille †1887 (Scan: de:Benutzer:Morty), Barmen (1870), als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.

* Ob der Unterschied zwischen wissenschaftlicher Forschung und Tüftelei so groß ist, darf bezweifelt werden (vgl. Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt (M.) 1986.); was den Unterschied machte war der Gegenstand der Tüftelei, also Maschinen hier und Grundlagenforschung dort; das ist tatsächlich ein Ergebnis der modernen Wissenschaft.

** Es steht zu vermuten, dass die Grenzen Künstlicher Intelligenz oder genauer maschinellen Lernens enger gezogen sein könnten, als die Hochglanzbroschüren der Tech-Konzerne vermuten lassen; jedenfalls wird genau abzuwägen sein, welchen Einsatz solcher Technologien wir zulassen wollen und welchen nicht. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang das Buch von Katharina Zweig (Ein Algorithmus hat kein Taktgefühl. München 2019.), das ich am 26.03.2021 besprochen habe (Ilsebills letzte Wunsch, TimsBücher 2021#5).