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Literatur & Kultur

Der achtsame Endecker

Die Entdeckung der Langsamkeit
von Sten Nadolny
Piper, 384 S., 12,00 €

Die Nordwestpassage, der Seeweg vom Atlantischen zum Pazifischen Ozean entlang der Nordküste Kanadas, hat seit je her Entdecker und Abenteurer angezogen. Einer von ihnen war der britische Marine-Offizier John Franklin, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei Land-Expeditionen entlang der kanadischen Nordküste unternahm und dessen Schiffe später bei dem Versuch die Passage zu durchsegeln im Eis stecken blieben.
In seinem 1983 erschienenen Roman Die Entdeckung der Langsamkeit erzählt Sten Nadolny seine Version von Franklins Leben. In dieser ist er nicht etwa ein tollkühner Draufgänger, sondern ein ausdauernder Planer. So macht er seine einscheidende Schwäche zu seiner Stärke: Denn Franklin ist langsam, so langsam, dass er als Kind keinen Ball fangen konnte.
Gleichzeitig ist er ein genauer Beobachter: Als seine Klasse sich im Wald verläuft, weiß er als einziger den Weg zurück. Er „hatte die allmählichen Veränderungen beobachtet, den Sonnenstand, die Steigung des Bodens – er wusste wo es zurückging.“ Doch noch nützt ihm das nichts: Die Schnellen wollen lieber handeln, als zuzuhören.

Nach einer kurzen Expedition zur Royal Navy und der Teilnahme an der Seeschlacht vor Kopenhagen heuert der 15-jährige Franklin als Kadett auf einem Forschungsschiff an. Unter dem Kommando seines Onkels Matthew Flinders umsegelt er Australien und erlernt die Grundbegriffe der Seemannschaft.
Seine Langsamkeit bleibt zunächst ein Problem. Die anderen Fähnriche sind schneller und leiten oft „aus höherer Geschwindigkeit […] das Recht ab, anderen wegzunehmen, was sie gerade in den Fingern hatten.“
Doch mit seiner Ausdauer und Achtsamkeit ist er eine Bereicherung für das Schiff: Er kann stundenlang auf seinem Posten verharren und das Meer beobachten. „Riffe konnte er rechtzeitig sehen und hören, denn er tat nie zweierlei zur gleichen Zeit.“ 
Er scheint zwar langsamer zu sein, doch versteht er es, sich ein Ziel zu suchen und dieses mit starrem Blick verfolgen. Über lange Strecken ist er so meist schneller als die Sprinter. „Weil Franklin so langsam ist, verliert er nie Zeit.“
Das lernen seinen Kameraden im Laufe der Zeit schätzen – und Franklin lernt, besser mit den Anforderungen des Schiffsbetriebs zurecht zu kommen: Bestimmte Handgriffe und Phrasen lernt er ganz einfach auswendig.
Zurück in Europa versinkt er für ein Jahrzehnt in den Wirren der Napoleonischen Kriege: Er nimmt an der Schlacht von Trafalgar teil und wird in der Schlacht von New Orleans verwundet. Er überlebt knapp – und findet zu seinen eigentlichem Ziel zurück.
Er möchte wieder auf Entdeckungsreise gehen, am liebsten Richtung Nordpol. Denn „er war sicher, daß es dort, weil im Sommer die Sonne nicht unterging zweierlei gab: offenes Wasser und Zeit ohne Stunden und Tage.“
Doch bei Kriegsende findet er sich zunächst als Leutnant auf Halbsold wieder und muss versuchen sich an Land zurecht zu finden. Mit Geduld, Glück und dank guter Kontakte gelingt es ihm für eine Expedition ausgesucht zu werden: Er bekommt das Kommando über das zweite Schiff auf einer Reise in die Nordwestpassage. 
Seine Besatzung zweifelt zunächst an ihrem langsamen Kapitän – denn sie meint: Ein Kapitän darf nicht langsam sein, er muss schnell entscheiden. Wieder muss er ein skeptisches Umfeld davon überzeugen, dass Beharrlichkeit besser ist als Schnelligkeit. 
Zur ultimativen Bewährungsprobe kommt es, als die beiden Schiffe der Expedition in einem Sturm auf die Eiskante getrieben werden. Mit ruhiger Hand gelingt es Franklin erst sein eigenes Schiff zu retten und dann dem Expeditionsleiter zur Hilfe zu eilen und auch dessen Schiff zu retten.
Zurück in England heiratet er und geht auf eine neue Expedition in die Arktis, diesmal zu Fuß: Er soll die Nordküste Kanadas kartografieren. 
Doch die Reise wird zu einem Fiasko. Selbst mit endloser Geduld gelingt es Franklin nicht, die Kommandanten der Außenposten dazu zu bringen ihn – wie es ihnen befohlen ist – mit den erforderlichen Kräften zu unterstützen. Unzureichend ausgerüstet und verproviantiert gelingt es Franklin und seinen Leuten zwar die Nordküste Kanadas zu erreichen, doch als auch noch die Unterstützung der Innuit ausbleibt, müssen sie unverrichteter Dinge umkehren.
Der Rückweg ist ein mehrere Monate dauernder Gewaltmarsch ohne Verpflegung, den die meisten seiner Gefährten nicht überleben.

Wieder in London scheint Franklin erledigt. Verzweifelt entschließt er sich einen Bericht über seine Expedition zu verfassen. Der wird zum Bestseller und Franklin als „der Mann, der seine Schuhe aß“ berühmt.
Wenig später wird ihm eine zweite Chance gegeben, die Nordküste Kanadas zu erkunden. Diesmal wird die Expedition besser ausgerüstet und vor allem hat Franklin die Lebensweise der Inuit genau studiert, denn „die Eskimos konnten hier leben, und wenn man so lebte wie sie, konnte man es auch.“*
Es gelingt ihm einen Großteil der Kanadischen Nordküste bis nach Alaska zu erkunden – und er stellt sogar fest, dass es hier im Sommer offenes Wasser gibt. Eine Durchfahrt durch die Nordwestpassage scheint also möglich zu sein.
Diesmal kehrt Franklin als erfolgreicher Entdecker nach Europa zurück, wird in den Adelsstand erhoben und verfasst einen neuen Expeditionsbericht.
Er würde zu gerne wieder in die Arktis reisen, doch stattdessen wird er zum Gouverneur der Kolonie in Van-Diemens-Land (dem heutigen Tasmanien) ernannt. Er versucht den Strafvollzug menschlicher zu gestalten und die Kolonie wirtschaftlich zu entwickeln. Doch macht er sich damit Feinde unter den Landbesitzern, die die Sträflinge weiter als billige Arbeitskräfte ausbeuten wollen. Diese Konflikte führen zu seiner Abberufung nach sieben Jahren und seiner Rückkehr nach London.
Von den Wirren der Politik enttäuscht, stellt sich der 60-jährige erneut für eine Expedition in die Arktis zur Verfügung. Mit den Schiffen Erebus und Terror soll er nun endlich die Nordwestpassage finden und durchfahren – trotz seines Alters scheint er der geeignete Mann dafür zu sein.
Die Ausrüstung der Expedition lässt nichts zu wünschen übrig: Bester Proviant, in Konservendosen verpackt, und sogar einige hundert Bücher werden mitgenommen, damit sich die Expeditionsteilnehmer nicht langweilen. Doch schon bald sitzen die Schiffe im Packeis fest.
Franklin wird nicht ungeduldig. Er wartet auf offenes Wasser. Doch nach zwei Jahren ereilt den 62-jährigen ein Schlaganfall – wenig später stirbt er.
Seine letzte Expedition scheitert. Kein Teilnehmer wird zurückkehren – und nur durch das beharrliche drängen seiner Frau wird das Schicksal der Expedition und ihrer Teilnehmer aufgeklärt: Sie starben bei dem Versuch zu Fuß zum nächsten menschlichen Außenposten zu kommen – die letzten Überlebenden waren scheinbar so verzweifelt, dass sie sogar Zuflucht zum Kannibalismus nahmen.

Auch wenn Nadolny die Lebensgeschichte Franklins korrekt erzählt, ist Die Entdeckung der Langsamkeit ein Werk der Fiktion. Die Schilderung von Franklins Charakter als langsamen Menschen, der sich in einer Welt auf der Überholspur zurechtfinden muss, entspringt allein seiner Phantasie.
Denn Nadolnys Franklin ist mehr als ein Mensch in seiner Zeit: Es ist eine Parabel auf das unbändige Bedürfnis vieler Menschen erst zu handeln – und dann zu denken.
Daher hat Die Entdeckung der Langsamkeit seit ihrem Erscheinen 1983 nichts an Aktualität verloren – denn die Welt ist seitdem nicht langsamer, überlegter und achtsamer geworden, sondern noch schneller. In einer Zeit, die so schnell geworden ist, dass sie sogar die Schnellen überfordert, ist eine Lob der Langsamkeit ein notwendiger Anachronismus.
Am Beispiel Franklins können wir erkennen, dass der Langsame auf lange Sicht schneller ist, weil er den Weg – oder zumindest die Richtung – kennt bevor er losgeht. Denn Handeln wird sinnlos, wenn es nur dazu dient das Gefühl von Ungeduld und Stillstand zu betäuben.
Genau das müssen wir uns in einer Zeit, in der die Probleme immer drängender scheinen vor Augen halten. Es wird keine schnelle und leichte Lösung geben, ganz egal, wo man sich ankettet oder wohin man sich klebt. Der Weg zu einer Lösung unser heutigen Probleme wird eine Odysee und kein Sirenengesang sollte uns davon abhalten den Weg zu einer Lösung zu beschreiten – und jeden Schritt immer wieder zu prüfen und zu hinterfragen.
Das ist der schwere Weg, der lange und mühsame – und der einzige. Weil wir keine Zeit zu verlieren haben– und weil wir schon mehr als genug Zeit verloren haben – sollten wir endlich aufhören wie die aufgescheuchten Hühner hin und her zu rennen und uns auf den Weg machen.
Das erste Problem dabei wird freilich demjenigen von Nadolnys Helden recht ähnlich sein: In einer Welt, die von den Schnellen beherrscht wird und in der die Mehrzahl der Menschen (und Wähler) blinden Aktionismus mit Entschlossenheit verwechselt, gilt es als Erstes, sich Gehör zu verschaffen.

Anmerkungen:

Diese Besprechung wurde am 28.06.2023 als TimsBücher 2023#02 unter dem Datum des 10.02.2023 veröffentlich.

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Illustrated London News – Getty, Franklin Expedition 1845 – HMS Terror – Erebus, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.

* Ich bin mir nicht sicher in wieweit diese Erkenntnis Franklins ein Anachronismus ist: Einerseits könnte dies den Erfolg seiner zweiten Expedition erklären. Gleichzeitig sollten spätere Polarexpeditionen von Franklings dritte Expedition bis hin zur Robert F. Scotts Terra Nova-Expedition von dem Gedanken getragen sein, mit modernen Mitteln den Herausforderung der Polarregionen beizukommen. Die Terra Nova-Expedition markiert zugleich das Ende dieses Ansatzes, denn der Erfolgt der Amundsen-Fram-Expedition zeigte, dass der Rückgriff auf die Überlebenstechniken der Innuit ein Erfolg versprecheder Weg war.