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Gesellschaft & Politik

Der lange Weg zur Demokratie

Demokratie – Eine Deutsche Affäre
von Hedwig Richter
Verlag C.H. Beck, 400 S., 26,95 €

Aufbruch in die Moderne – Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich
von Hedwig Richter
Suhrkamp Verlag, 175 S., 16,00 €

„Bevor wir mit der Sache selbst beginnen, sagte er abgehackt, gedenken wir seiner Majestät unseres allergnädigsten Kaisers. Denn die Sache hat den höheren Zweck, dass wir seiner Majestät Ehre machen und tüchtige Soldaten liefern.“ – Mit diesen Worten beginnt Diederich Heßling, die Hauptfigur aus Heinrich Manns Roman Der Untertan, seine Hochzeitsnacht.
Mann liefert in seinem vor dem Krieg entstandenen, aber erst 1919 veröffentlichten Roman, eine bitterböse Karikatur des Kaiserreichs und insbesondere des Untertanengeistes, dessen wesentliches Element es ist, nach oben zu kuschen und nach unten zu treten. Wenn das Kaiserreich von Figuren wie Heßling – der eine maßstabsgetreu verkleinerte Kopie von Wilhelm II. sein soll – geprägt wurde: Wie kann man dann darauf kommen genau in dieser Zeit die Wurzeln der deutschen Demokratie zu suchen?
Doch die Annahme greift zu kurz: Heßling mag sich auf seiner Papierfabrik als uneingeschränkten Herrscher inszenieren, in Wahrheit ist seine Macht bereits vielfach eingehegt: In der Fabrik ist er auf die Unterstützung des Gewerkschafters und Sozialdemokraten Napoleon Fischer angewiesen – und in der Gesellschaft wird er durch ein fortschrittliches Bürgertum herausgefordert, hier verkörpert durch den jungen Rechtsanwalt Buck.
Zwar blieb das Kaiserreich die Arena, in der Untertanen wie Heßling Erfolge feiern konnten; doch die Zeit ihrer absoluten Herrschaft war längst vorbei – und Prozesse waren in Gang gekommen, die sie in wenigen Jahrzehnten vollends als überständig erscheinen lassen würden.

Genau diesen Prozessen geht die Historikerin Hedwig Richter in Ihrem Buch Demokratie – Eine Deutsche Affäre nach. Fluchtpunkt ist dabei das Jahr 1949 – denn (abgesehen vom letzten Kapitel) läuft das ganze Buch auf die Frage hin: Wie war es möglich, dass aus den Trümmern des Nationalsozialismus – den tatsächlichen, wie den moralischen – eine stabile Demokratie entstehen konnte.
Richter geht davon aus, dass die Demokratie kein Import der Alliierten gewesen ist, sondern auf einen älteren Bestand an Traditionen und Institutionen zurückgreifen konnte, die zu ihrem Gelingen beitrugen. „DennDemokratie entwickelt sich nicht aus einer Idee, sondern aus einem ungeordneten Konglomerat von Ideen und Praktiken, die sich oft genug widersprachen.“
Angetrieben wurde dieser Prozess durch den Gedanken „von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit.“ Gerade derGedanke der universellen Gleichheit hatte einige Sprengkraft: Er setzte einen gewaltigen Inklusionsprozess in Gang, in dessen Rahmen sich Nationen bildeten, die sich zugleich scharf gegen andere Nationen abgrenzten.
Dieser Gedanke machte in vielen Punkten einen andere Politik erforderlich: Armut zum Beispiel wurde nun nicht mehr als unabwendbares Schicksal betrachtet, sondern als Ergebnis einer schlechten oder falschen Politik – und genau mit diesem Mittel, nämlich einer besseren und richtigen Politik konnte Armut auch bekämpft werden.; so wurde eine umfangreiche Sozialpolitik zu einem Werkzeug dieses Integrationsprozesses.
Ein anderes der Werkzeuge war, so Richter, die Teilhabe an der Verantwortung für das Gemeinwesen („Inklusion durch Partizipation“) – und so wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts in immer mehr deutschen Staaten Parlamente eingeführt, die von einer immer größer werdenden Gruppe von Männern gewählt werden konnten.
Diese Entwicklung gipfelte zunächst im allgemeinen Männerwahlrecht, wie es die Verfassung des Norddeutschen Bundes (1866) vorsah. Das fehlende Frauenwahlrecht blieb ein Manko. Allerdings begannen Frauenvereine das Wahlrecht auch für Frauen einzufordern; eine Forderung, die erst in der Weimarer Reichsverfassung (1919) berücksichtigt werden sollte.

Der Reichstag sei in den folgenden Jahren zu einem Gravitationszentrum der Politik im Deutschen Reich geworden. Im Zuge der um sich greifenden Massenpolitisierung wurden die Sitzungen des Reichstages von breiten Bevölkerungsschichten kommentiert und rezipiert. Der Bundesrat – das Länder- bzw. Fürstengremium – dagegen sei blass geblieben, weil es hinter verschlossenen Türen tagte und von der Öffentlichkeit kaum beachtet worden sei. Der Kaiser habe sich im Laufe der Zeit auf eine eher repräsentative Rolle zurückgezogen.
Hier scheint Richter jedoch zu unterschätzen, dass die „oft mediokren Bevollmächtigten“ im Bundesrat häufigLandesminister waren; zum Beispiel wurde die preußische Delegation vom Ministerpräsidenten angeführt, der in der Regel zugleich Reichskanzler war und so dem Gremium auch vorsaß. Und auch der Kaiser war weit mehr als ein Repräsentant; er behielt etliche Fäden in der Hand. Der Reichskanzler war allein von seinem Vertrauen abhängig – und gerade Wilhelm II. entwickelte die Neigung selbst die Richtlinien der Politik bestimmen zu wollen. 
Mochte der Reichstag sich im Laufe der Jahre zu einem selbstbewussten Parlament entwickelt haben, nie unternahm er Schritte zu einer Parlamentarisierung des Reiches. Die Regierung war ihm nicht verantwortlich und wurde es auch nicht; nicht den Buchstaben der Verfassung nach und auch nicht aufgrund irgendwelcher Traditionen.

Die Entstehung der Weimarer Republik ist für Richter ein Ergebnis des Ersten Weltkrieg, denn „der Weltkrieg [habe] einen demokratisierenden Effekt [gehabt].“ – Leider befasst Richter sich nicht mit der Frage, ob nicht auch die – gewiss institutionell eingehegte – Revolution von 1918/19 ihren Beitrag dazu geleistet haben könnte.
Die Weimarer Republik knüpfte in vielen Punkten an das Kaiserreich an, insbesondere bliebt die Gesellschaft hoch politisiert – und Wahlen und Parlament waren schon seit Jahrzehnten eingeübt.
Allerdings greift Richters Schluss etwas kurz: Sicher war der Reichstag es gewohnt, Sachentscheidungen zu treffen und Haushalte zu beschließen. Aber mit seiner zentralen neuen Aufgabe – der Wahl des Kanzlers und der Regierung – fremdelte er gewaltig. Denn hier hatten die Parlamentarier keine Erfahrungen. Sie waren es gewohnt ihr Mandat ohne solche Rücksichten auszuüben. Stürzte im Kaiserreich keine Regierung über eine fehlende Parlamentsmehrheit, so waren es in der Weimarer Republik fast alle. In den 14 Jahren ihres Bestehens verschliss sie so ganze zwanzig Regierungen.*
Die Nationalsozialisten boten eine Vereinfachung dieser Welt an: Alle Probleme und Konflikte der Moderne konnten so scheinbar aufgelöst werden. Beachtlich findet Richter, dass auch die Nationalsozialisten nicht bereit waren auf bestimmte Elemente zu verzichten, die auch eine Demokratie auszeichnen können, wie zum Beispiel Wahlen und ein Parlament. 
Der besonders inklusiven und fürsorglichen Volksgemeinschaft stehen freilich insbesondere die Juden als eine Gruppe entgegen, die zuerst scharf ausgegrenzt, später entrechtet, entmenschlicht und am Ende ermordet wurde.

Das Bonner Grundgesetz bezeichnet Richter – vollkommen zu Recht – als originär Deutsches Produkt. Es spiegelt die Erfahrungen der Deutschen mit dem Staat und mit der Demokratie in anderthalb Jahrhunderten wieder. Gerade mit den verbindlichen Grundrechten und deren Absicherung durch ein starkes Bundesverfassungsgericht, mit dem konstruktiven Misstrauensvotum und dem Verzicht auf plebeszitäre Elemente leistete es einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung des Landes.
Mindestens genauso wichtig für das Gelingen der zweiten Deutschen Demokratie war die Tatsache, dass die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen günstig waren und es über mehrere Jahrzehnte blieben.
Unter diesen Umständen konnte auch die Gleichberechtigung der Frauen vorangetrieben werden und erhielt durch die Reformen des BGB durch die sozial-liberale Koalition einen machtvollen Schub, aber ebenso durch die Erfindung der Pille, die es Frauen ermöglichte auf einer ganz anderen Ebene über den eigenen Körper zu entscheiden. So sehr ich Richter hier zustimme, so sehr möchte ich aber auch darauf hinzuweisen, dass die Pille es einer noch immer männlich geprägten Gesellschaft leicht machte, die Lasten der Empfängnis-Verhütung allein auf die Frauen abzuwälzen.
Ebenso konnte die europäische Integration vorangetrieben werden; Richter liefert hier eine interessante Deutung: Für sie kann die EU die Nationalstaaten nicht ersetzen, weil Demokratie sich bisher immer auf nationaler Ebene entfaltet hat. Sie kann aber zu etwas drittem werden, zu einer Institution, die den Nationalstaat ergänzt und vielleicht bekömmlicher macht.

Ottomar Anschütz (died 1907);, Grundsteinlegung Reichstag, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

In Ihrem Buch Aufbruch in die Moderne – Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich beschäftigt Richter sich noch einmal intensiver mit dem Kaiserreich. Denn in dieser Zeit entsteht die modernen Massendemokratie, die ihre Projekte durch Reformen, verstanden als „als planvolle, friedliche Umgestaltung des Bestehenden“ umsetzt.
In diesem zweiten Buch macht Richter es der Leser:in viel leichter als im ersten, weil sie ihren Untersuchungsgegenstand – eben Massenpolitisierung und Reform – viel konkreter fasst und auf die Verwendung eines stark vorgeprägten Begriffes, wie Demokratie, verzichtet. 
Im Kaiserreich sei es zu einer starken Politisierung des Massen gekommen. Das habe sich ergeben, weil einerseits durch den lang anhaltenden Wirtschaftsaufschwung immer mehr Menschen Zeit hatten, sich neben der Arbeit mit Politik zu befassen.
Ein zweiter Motor war das allgemeine Männerwahlrecht des Reichstages: Dessen Sitzungen wurden in der Öffentlichkeit diskutiert und rezipiert. Zeitungen berichteten darüber. Frauen wurden gleichzeitig auch durch den Kampf um das Stimmrecht und durch soziale Tätigkeiten politisiert.
Im Kaiserreich bildete sich ein reiches Vereins- und Verbandsleben heraus; und viele diese Vereine und Verbände versuchten Einfluss auf die Politik zu nehmen, wie zum Beispiel: Gewerkschaften und Unternehmerverbänden, Umwelt- und Frauenverbände.
Ein weiteres Moment dieser Politisierung war die Globalisierung, denn in jener Zeit war die Weltwirtschaft hochgradig verflochten. Dabei blieb die Globalisierung ein nationales Projekt, bei dem mehrere Nationen um die Vorherrschaft stritten und man die eigene Nation am liebsten gewinnen sah.
Eine besondere Bedeutung hatte die Massenpolitisierung im Bereich der Außenpolitik; hier wurde, so Richter, eine bestimmte Außenpolitik von Interessenverbänden und Wählern gefordert.
Tatsächlich war im Kaiserreich von je her die Tendenz zu beobachten „die überseeische Politik wegen der erhofften Binnenwirkung auch als Instrument der Herrschaftstechnik einzusetzen.“** Dieses Konzept des „Sozialimperialismus“ spricht Richter indes nicht an; obwohl es sehr gut zur Manipulation der Massen geeignet sein dürfte.
Ebenso vom Geist des nationalen Wettbewerbs angetrieben wurde der Kolonialismus. Hier weist Richter deutlich darauf hin: Es ist der Glaube an die eigene Überlegenheit (und damit die Unterlegenheit des anderen), der Kolonialismus erst möglich macht. Dies förderte auch biologistische Theorien, wie den Sozialdarwinismus und die Rassenlehre – und mündet in Kolonialverbrechen, wie den Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia.

Für Richter war das Kaiserreich ein normaler Staat im Europa der Jahrhundertwende. Seine Verfassung war das Ergebnis eines Kompromisses und sie war längst beschlossen, als der Kaiser in einer schmucklosen Zeremonie im Spiegelsaal von Versailles gekrönt wurde; nicht um den unterliegenden Gegner zu demütigen, sondern einfach, weil kein anderer Saal in Versailles groß genug war.
Im Reichstag herrschte zunächst eine liberale Mehrheit und setzte zahlreiche Reformen um. In den 1880er Jahren stellten mehr und mehr konservative Kräfte die Mehrheit im Reichstag und veränderten die Agenda. Trotzdem gab es in den folgenden Jahrzehnten umfangreiche Sozialreformen und zudem Verbesserungen im Arbeitsschutz.
Durch das allgemeine Wahlrecht wurden die Liberalen geschwächt und die konservativen gestärkt. Langfristig aber wurden progressive Kräfte – nämlich Sozialdemokratie und Fortschritt – immer stärker. In den Kommunen bliebt, wegen des abweichenden Wahlrechts, oft eine liberale Mehrheit bestehen. Das erklärt vielleicht, warum auf kommunaler Ebene weiterhin viele Reformen unternommen wurden.
Ein weiterer neuer Gedanke ist der Zusammenhang von allgemeiner Wehrpflicht und allgemeinem Wahlrecht – für meinen Geschmack ein (zu) hoher Preis für die Integration durch Partizipation.
Im Kaiserreich waren Reformen zwar möglich und wurden auch in Angriff genommen. Gleichzeitig hatten die Möglichkeiten der Reformer deutlich sichtbare Grenzen. So kam es – trotz einer starken Zivilgesellschaft – in den Jahrzehnten des Kaiserreichs ebenso wenig zu einer Ausweitung des Wahlrechts auf Frauen, noch zu einer Parlamentarisierung des Reiches und noch nicht einmal zu einer Reform des überständigen preußischen Dreiklassenwahlrechts gekommen; all das konnte erst durch die Revolution 1918/19 und die in ihrem Windschatten notwendigen Reformen beseitigt werden.

Beim Lesen von Richters Büchern habe ich mir immer wieder die Frage gestellt: Warum waren die Reformer, die Kräfte die sich für die Demokratie eingesetzt haben eigentlich so wenig erfolgreich? – Die Antwort scheint zu sein: Weil die Gegenkräfte, diejenigen, die erhaltenden Sinnes waren und – nach dem Ende des Kaiserreiches – diejenigen, die das Kaiserreich zurück haben wollten, oft zu stark waren. Denn viele der hier von Richter beschriebenen, vordergründig auf Demokratie hinauslaufenden Prozesse nützen auch ihnen.
Leider erfährt man bei Richter über diese Gegenkräfte recht wenig; ihre Erzählung bleibt optimistisch, auf die progressiven Kräfte bezogen und ich hatte am Ende das Gefühl: Das war nur die halbe Geschichte.
In der Einleitung von Demokratie – Eine Deutsche Affäre schreibt Richter: „Diese Geschichte präsentiert die Affäre der Deutschen Demokratie als eine Serie – mit allen menschlichen Abgründen.“ – Nur ein wesentliche Zutat einer guten Serie scheint Richter vergessen zu haben: einen Bösewicht oder auch mehrere. Figuren wie Heßling also, die genau diese menschlichen Abgründe verkörpern, von denen Richter in ihrem Vorwort spricht. Vielleicht wäre das ja eine Anregung für die nächste Staffel.

Anmerkungen:

Die Bilder zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurden unter folgenden Lizenzangaben veröffentlicht:
(1) Anton von Werner creator QS:P170,Q77324 , Reichstagseröffnung, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
(2) Ottomar Anschütz (died 1907);, Grundsteinlegung Reichstag, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

* Eine Leistung, die sogar Anhänger des italienischen bicamerlismo perfetto zu aufrichtige Anerkennung abringen müsste; auch wenn die Weimarer Republik es nicht hinbekommen hat, die schnellen Regierungswechsel mit der durchgängigen Herrschaft einer Partei zu verbinden. Das bleibt eine originär italienische Leistung.

** Das Zitat stamm aus dem Buch Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des ersten Weltkrieges (1849-1914) von Hans-Ulrich Wehler und ist dort zu finden auf S. 986.