Die Shitstorm-Republik
von Nicole Diekmann
Kiepenheuer & Witsch, 298 S., 12,00 €
Der Shitstorm traf sie unerwartet. – Am Neujahrstag 2019 hatte die Journalistin Nicole Diekmann einen Tweet abgesetzt; dessen Text – „Nazis raus!“ – hatte sie schon einmal getwittert und zudem hielt sie ihn für eine Binsenweisheit, denn es sei doch klar, „dass wir hier in Deutschland keine Nazis mehr wollen.“ – Diesmal allerdings erhielt der Tweet erheblich mehr Aufmerksamkeit – und einer ihrer Follower fragte nach, wer den für sie ein Nazi sei.
Der Account des Fragestellers war ihr schon vorher aufgefallen, weil er sie mehrmals kritisiert und eine ganze Reihe von Tweets gepostet hatte, in denen er den öffentlich-rechtlichen Rundfunk attackierte und das Wort „Lügenpresse“ benutzte. Wie ein Seelöwe tauchen solche Fragesteller:innen auf und – egal, welche Antwort sie bekommen – versuchen mit immer weiteren Fragen die Gefragte:n in die Weißglut zu treiben.*
Um eine solche Diskussion zu vermeiden, gab Diekmann eine ironische Antwort: „Jede/r, der/die nicht die Grünen wählt.“ – Am Ende des Tweets setzte sie keinen Zwinker-Smilie, um die Ironie zweifelsfrei zu markieren.**
Zwei Tage später brach die Hölle los: Einige größere Accounts aus dem rechten Lager hatten die Nachricht retweetet und sie erhielt reihenweise Antworten, in denen sie übel beleidigt oder bedroht wurde.
Das löste bei ihr den Reflex aus einfach wegzulaufen, selbst wenn sie die Nachrichten in der eigenen Wohnung las. Sie beschreibt wie Freund:innen ihr rieten, Twitter nicht zu öffnen – denn wozu sollte sie sich all den Hass antun – und wie sie doch der magischen Anziehungskraft des Handys erlag.
Der Hass hatte aber auch ganz reale Folgen: Noch Wochen nach dem Shitstorm fühlt sie sich bedroht und scannte„morgens und abends beim Verlassen des Hauses beziehungsweise des ZDF [ihre] Umgebung.“ – Denn wie einige Monate später der Mord an Walter Lübke zeigen sollte: Der Hass aus dem Netz ist längst in der Realität angekommen.
In ihrem Buch Die Shitstorm-Republik geht Diekmann der Frage nach, warum Debatten in den sozialen Medien so schnell eskalieren und inzwischen die gesellschaftliche Debattenkultur zunehmend vergiften.
Gestartet waren die sozialen Medien – also Facebook, Twitter, Youtube, Instagram und Co. – mit großen Hoffnungen: Anfang der 2010er Jahre wurden sie zum bevorzugten Kommunikationskanal von Oppositionellen, erst im Iran, später im arabischen Frühling.
Doch schon bald zeigten sich auch Nachteile: „Die Lautstärke der Lautstarken übertönt die Vernünftigen und Unterstützenden.“ Die Folge davon: Debatten er- und überhitzen sehr schnell, weil kleine Troll-Gruppen versuchen die (vermeintliche) Deutungshoheit zu gewinnen.
Dieses Schema wurde von den sozialen Netzwerken aus einer Mischung von (anfänglicher) Hilflosigkeit und (späterer) Profitgier begünstigt, wie man beim Prototyp des sozialen Netzwerkes beobachten kann, bei Facebook.
Gestartet im Jahr 2004 als virtuelles Jahrbuch für amerikanisch Student:innen und Schüler:innen expandierte Facebook in atemberaubender Geschwindigkeit: Bis Ende 2006 hat es 12 Millionen Nutzer:innen, die sich im nächsten Jahr auf 50 Millionen vervierfachen – inzwischen sind fast drei Milliarden Menschen bei Facebook angemeldet.
Eine Folge dieses Wachstums war, dass das Netzwerk mit der Moderation nicht hinterher kam – und insbesondere mit der Menge der geposteten Hass-Botschaften nicht schritt halten konnte.
Doch schon bald stellte sich heraus: „Rein finanziell betrachtet ist jeder Shitstorm gut für die Plattformen.“ – Deswegen hat Facebook auch kein echtes Interesse daran, Hass-Botschaften zu unterbinden: Sie sind es die Nutzer:innen länger auf der Plattform halten und es ihr ermöglichen mehr Werbung einzublenden und höhere Gewinne zu generieren.
Diese Ausführungen ließen sich freilich noch weiter schärfen, wenn Diekmann sich der Terminologie aus Shoshana Zuboffs Buch Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus bedienen würde; denn es geht nicht nur darum, Werbung einzublenden, sondern auch darum das Verhalten der Nutzer:innen aufzuzeichnen und daraus das zu gewinnen, was Zuboff „Verhaltensüberschuss“ nennt. Mit diesem Wissen um das Verhalten der Nutzer:innen versuchen die Plattformen, Zuboff nennt sie: Überwachungskapitalisten***, dann Vorhersagen über zukünftiges Verhalten der Nutzer:innen zu gewinnen – und diese an ihre Kunden zu verkaufen. Die Kund:innen für solche Vorhersage-Dienstleistungen sind vielfältig: natürlich Werbetreibende, aber auch Analyse-Unternehmen, politische Parteien und gelegentlich sogar staatliche Stellen.
Der Hass ist nicht unbedingt Bestandteil dieses Geschäftsmodells, sondern vielmehr ist er den Plattformengleichgültig – eingeschritten wird nur dann, wenn er die Datenernte bedroht scheint, weil zu viele Nutzer:innenabspringen oder weil der Staat mit Sanktionen oder einer Regulierung dieses Geschäftsmodells droht. Dann werden halbherzige Reformen mehr versprochen, als in Angriff genommen.
Dasselbe gilt für Youtube, Twitter und Instagram, ebenso für die Messenger-Dienste wie WhatsApp und Telegram, die teilweise Gruppen von recht beträchtlicher Größe zulassen und so zu Echokammern für Hassbotschaften werden können, die öffentlich überhaupt nicht mehr wahrzunehmen und einzusehen sind; hier ist eine problematische Grauzone entstanden, die erheblich zur Radikalisierung des Dialoges beiträgt.
Ein Rückzug ist für Diekmann dennoch keine Option: Denn für sie sind die sozialen Medien öffentliche Räume, wie eine Fußgängerzone – und es ist Aufgabe der Politik und des Staates dafür zu sorgen, dass hier keine rechtsfreien Räume entstehen in denen beleidigt und gedroht werden kann.
Leider waren die bisherigen Versuche wenig erfolgreich: Das Netzdurchsuchungsgesetz ist weit weniger eine Lösung des Problems, als „die in Gesetzesform gegossene Hilflosigkeit der deutschen Politik.“
Und so verlaufen die Ermittlungen der (inzwischen in einigen Bundesländern eingerichteten) Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften nur zu oft im Sand oder scheitern an der mangelnden Mitwirkung der Plattformen.
Um so erstaunlicher ist es, dass die sozialen Medien im politischen Geschäft eine immer wichtigere Rolle spielen: Regierungen, Parteien und Minister:innen sind hier aktiv und versuchen hier ihre Nachrichten unter die Leute zu bringen und – jedenfalls manche – mit ihren Followern auch ins Gespräch zu kommen.
In den sozialen Medien sind die Parteien aber unterschiedlich erfolgreich: Die CDU fremdelt zum Beispiel noch stark mit ihnen und hinterlässt die Frage, ob sie nicht womöglich den Anschluss an die Lebenswirklichkeit einer ganzen Generation verloren hat; nicht viel erfolgreicher sind CSU und SPD.
Dagegen konnte die FDP im Bundestagswahlkampf 2017 einige Erfolge verbuchen; allerdings wirkte ihr Auftreten spätestens seit den geplatzten Sondierungsgespächen mit CDU und Grünen zu inszeniert. Zumindestist die FDP – jedenfalls im Bereich Social Media – sehr stark auf ihren Parteichef Christian Lindner fixiert. Auch die Grünen sind in den sozialen Medien erfolgreich.
Den vielleicht stärksten Zulauf kann freilich die AfD verbuchen; es gelingt ihr immer wieder in Debatten auf Facebook und YouTube den Ton anzugeben.
Das liegt auch an den Auswahlalgorithmen der beiden Plattformen, die Inhalte für besonders relevant halten und bevorzugen, die zuspitzen und verkürzen und deswegen besonders viele Likes bekommen.
Hinzu kommt, dass die AfD in den sozialen Medien ein relativ stabiles Unterstützer:innen-Netzwerk hat, das ihr hilft ihre Inhalte zu verbreiten, ihre Gegner:innen mundtot zu machen – und natürlich reichlich Krokodilstränen zu vergießen, weil die Meinungsfreiheit in Deutschland angeblich bedroht sei.
Die Linkspartei ist in den sozialen Medien ebenfalls recht erfolgreich – meist dort, wo es auch die AfD ist. Dennoch scheint sie davon nur wenig zu profitieren.
Erstaunlicherweise fremdeln auch die klassischen Medien und ihre Verantwortlichen mit den sozialen Medien: Wie zuvor das Internet haben sie die sozialen Medien viel zu lange nicht ernst genommen und es versäumt haben, sich eine vernünftige Social Media-Strategie zu überlegen.
„Der Fisch irrlichtert vom Kopfe her.“ – Deswegen haben die Verantwortlichen oft große Probleme damit, die Dynamiken von sozialen Medien einzuschätzen – und reagieren dann unüberlegt und unangemessen.
So räumte der WDR zum Beispiel nach der Veröffentlichung des satirischen Liedes „Oma ist ’ne alte Umweltsau“ einen Fehler ein – obwohl die vermeintliche Empörung vor allem von ca. 500 Accounts „aus dem rechten Spektrum“ vorangetrieben wurde, die „für die Hälfte aller Interaktionen unter dem Hashtag #umweltsau zuständig gewesen“ sein.
Es bedarf daher einer „mit kühlem Kopf abgestimmten Kommunikationsstrategie“ – und eine solche muss bei jedem Medienverantwortlichen als Notfallplan in der Schubladen liegen.
Allerdings zeigt Diekmann auch eine andere Bedrohung auf: Die Medienhäuser – sie erläutert das am Beispiel von DPA und Correctiv, die für Facebook Faktenchecks machen – könnten in eine verstärkte Abhängigkeit von den Plattformen gelangen.
Fügt man auch hier Zuboffs Erkenntnisse hinzu, stellt man fest: Eine solche Zusammenarbeit würde einen Journalismus begünstigen, der vor allem auf eine möglichst große Generierung von Verhaltensüberschuss gerichtet ist – also knallige Schlagzeilen, die zum Weiterklicken animieren.****
Diekmanns Buch schließt mit einem Plädoyer zum Handeln: Die Politik soll endlich die sozialen Netzwerke regulieren, die Journalist:innen sie endlich ernst nehmen und wir alle sollten uns in ihnen für eine Mäßigung des Tones und eine bessere Debattenkultur einsetzen; dazu muss man sich – darauf weist Diekmann explizit hin – nicht unbedingt mitten ins Getümmel einer erhitzten Debatten stürzen; im Zweifel kann auch ein wenig Solidarität oder eine kurze persönliche Nachricht den Betroffenen helfen.
Anmerkungen:
Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Anton Melbye artist QS:P170,Q3486604, Anton Melbye – Fyrtårn for Storebælt, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
* Deswegen wird diese Taktik auch als „sea lioning“ bezeichnet.
** Ich habe große Zweifel, dass Diekmann hier recht hat: Das dieser Tweet nicht ernst gemeint und die berühmte blöde Antwort auf eine noch blödere blöde Frage sein sollte, dass konnte man hier nur vorsätzlich verkennen – und gegen bösen Willen helfen Smilies eher nicht.
*** Hier sei angemerkt: Der Prototyp des Überwachungskapitalisten ist nicht etwa Facebook, sondern Google.
**** In diesem Zusammenhang stellt sich mir die Frage, ob das Vorgehen der Bild (und mit Einschränkungen auch ihre Schwester mit den etwas längeren Sätzen, gemein ist: Die Welt) in letzter Zeit einen Vorgeschmack auf den Journalismus des Überwachungskapitalismus gibt.