Notizzettel – Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert
von Hektor Haarkötter
S. Fischer, 592 S., 28,00 €
Schreiben ist ein Puzzlespiel mit Worten. „Ein arbeitsreicher Redaktionsprozess, bei dem aus den ‚Rohzuständen des Denkens‘ in immer neuen Revisionsstufen das Gedankenmaterial sortiert und aussortiert, auf Brauchbarkeit geprüft und schließlich zum Text zusammengebaut wird.“
Die erste schriftliche Verkörperung eines Gedanken sind oft Notizen, ein anarchisches Gewirr von Einfällen, Ideen und kleinsten Gedankensplittern auf Zettel gekritzelt, in Bücher gesudelt oder auf Wände geschmiert: „Der Notizzettel ist das Medium für das wilde Denken.“ Diese enge Verwandtschaft von Notieren und Denken ist es, die den Kommunikationswissenschaftler Hektor Haarkötter zu dem Schluss bringt: „Der Notizzettel bildet dann womöglich nahezu ideal die Art und Weise ab, wie wir denken. […] Unser Hirn: Ein Zettelkasten, unser Denken: Zettels Traum.“
Notizen sind für ihn die Nahtstelle von Denken und Schreiben, denn „unser Schreiben hat sich aus unserem Notieren entwickelt.“ In seinem Buch Notizzettel – Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert geht Haarkötter mal wissenschaftlich-theoretisch und mal erzählend-unterhaltsam diesem Gedanken auf den Grund.1
Anders als fertig gebaute Texte seien Notizen nicht auf Außenwirkung gerichtet. „Wer etwas notiert, tut dies in allererster Linie für sich selbst und teilt nicht anderen etwas mit.“ Deswegen seien Notizen auch eine Ausnahme von Paul Watzlawicks Regel: „Man kann nicht nicht kommunizieren!“ – Wer Notizen macht, könne das sehr wohl: Denn sie sind Bestandteil des Denkprozesses, Kommunikation mit sich selbst oder – wie Haarkötter es bezeichnet: „Kommunikanten ohne Kommunikat“.
Das Schreiben für die Veröffentlichung sei ein relativ neues Phänomen: Im „Manuzäon“, dem Zeitalter der Handschriftlichkeit, des Pergaments und der Kodizes, der Skriptorien und Kopisten wäre dieser Gedanke einigermaßen abwegig gewesen. Damals hatten fast alle Aufzeichnungen einen mehr oder weniger notizartigen Charakter und waren nicht für eine Veröffentlichung bestimmt, sondern allenfalls dafür, von einigen Eingeweihten gelesen und abgeschrieben zu werden. Erst die Erfindung des Buchdruckes habe es ermöglicht einen Text in nennenswerter Anzahl zu verbreiten, also zu veröffentlichen. Im „Typozäon“, dem Zeitalter des Buchdrucks, des Papiers und der Setzkästen, der Druckereien und Buchdrucker sei das Schreiben von Texten für die Veröffentlichung mehr und mehr zu einem Beruf geworden.2
Für Haarkötter ist Leonardo da Vinci der Erfinder des Notizzettels; denn Leonardo sei der Erste gewesen, der Gedanken, Skizzen und Beobachtungen auf papiernen Zetteln notiert habe – oder zumindest der Erste, von dem solche Zettel in größeren Mengen erhalten sind.
Diese Zettel scheinen bei Leonardo zunächst vor allem Bestandteil seines Denkprozesses gewesen sein. Zwar hob Leonardo seine Zettel auf, er unternahm jedoch nicht den Versuch sie zu sortieren. Er habe auch nie daran gedacht, seine Zettel zu veröffentlichen, im Gegenteil: Er habe sie verschlüsselt und verborgen. Nach Leonardos Tod gingen einige seiner Zettel verloren, andere wurden geordnet, zu Konvoluten zusammengefügt und veröffentlicht.
In der Renaissance soll Leonardo – das Universalgenie – als ein Mann gegolten haben, der viele gute Ideen hatte, aber der nur recht wenig davon umgesetzt habe.3 Doch Leonardo könnte gute Gründe gehabt haben, seine Notizen nicht allgemein zugänglich zu machen: Einer davon könnte gewesen sein, dass manche seiner Gedanken nicht im Einklang mit der kirchlichen Lehrmeinung standen. Davon abgesehen gilt es auch festzustellen: Leonardo war ein Handwerker, der selbst kaum Latein sprach. Er gehörte nicht dem Kreis der Gebildeten an, die wissenschaftliche Abhandlungen oder literarische Texte verfassten.
Auch wenn Haarkötter korrekt feststellt, „im Zeitalter nach Gutenberg hieß etwas zu schreiben, entweder, es für sich zu schreiben, zu notieren, oder es für andere zu schreiben und es drucken zu lassen,“ ist doch zu berücksichtigen: Leonardo lebte am Anfang des „Typozäons“. Das Buch war noch längst kein Massenprodukt und das Schreiben für die Veröffentlichung noch ungewöhnlich.
Schreiben sei stets ein Sprachspiel. „Das Notierspiel ist dasjenige Schreibspiel, das als postkonventionelles von Regeln am wenigsten eingegrenzt wird.“ Schreibe man dagegen einen Text, um ihn zu veröffentlichen, müsse dieAutor:in bestimmten Regeln befolgen, um verstanden zu werden, sie müsse sich wie in einem Wettbewerb bewähren, denn „einen Gedanken haben und einem anderen diesen Gedanken mitteilen und verständlich zu machen, das können zwei unterschiedliche und manchmal nicht zu vereinende Vorgänge sein.“
Ein Autor der sich diesem Wettbewerb zu entziehen versuchte, war Ludwig Wittgenstein. Der hat zu seinen Lebzeiten zwar nur ein größeres Werk veröffentlicht, trotzdem gilt er als einer der bedeutendsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts.
Wittgenstein sei es nie ganz leicht gefallen, sich mitzuteilen – und er war dazu auch nicht gezwungen: Denn er war zuerst aufgrund einer bedeutenderen Erbschaft und später aufgrund seiner Lehrtätigkeit finanziell unabhängig und nicht auf die Einnahmen aus einer Veröffentlichung angewiesen.
So machen den Hauptteil seines Werkes eine größere Menge akribisch geführter Notizbücher aus, sowie einige stark bearbeitete Manuskripte. Schreiben scheine für Wittgenstein vor allem das Bearbeiten von Notizen gewesen zu sein: Sein Arbeitsprozess bestand darin, umfangreiche Notizen zu fertigen und diese regelmäßig neu zu bearbeiten. Manches ließ er sogar abtippen – nur um dem Typoskript dann wieder mit der Schere zu Leibe zu rücken, um es zu neuen Notizen zu verarbeiten.
Dieser Arbeitsprozess sei nicht linear auf eine Veröffentlichung gerichtet, sondern dynamisch gewesen; alles konnte immer wieder durchdacht, auseinandergenommen und neu zusammengesetzt werden.
Wittgenstein habe so den Schreibprozess im „Digizäon“, also dem Zeitalter des digitalen Textes, der Bildschirme und Computer, der Blogger:innen und sozialen Medien vorweggenommen – denn auch wenn Blogs und Textverarbeitung auf eine gewisse Öffentlichkeit zielen mögen, bleiben sie doch viel dynamischer und offener für Veränderungen als gedruckte oder getippte Texte.
Zugleich erinnert diese dynamische Arbeitsweise an das „Manuzäon“ – zwar habe den weitaus größten Teil der Menschheitsgeschichte das Schreiben das Abschreiben fremder Texte bedeutet. Dennoch konnten solche Texte eine:n Autor:in ihr ganzes Leben lang begleiten und immer umfangreicher werden oder sogar über Generationen hinweg handschriftlich tradiert und immer weiter verändert werden.
Seinen Ursprung könnte das Schreiben in den Inventaren und Aufzeichnungen von Kaufleuten gehabt haben.4 So vergleiche auch Georg-Friedrich Lichtenberg seine Notierpraxis explizit mit derjenigen eine Kaufmannes, der alle Geschäftsvorfälle zunächst in eine Kladde ein- und dann später ins Hauptbuch überträgt.
Solche Notizen hätten aber schnell das Problem mangelnder inhaltlicher Kohärenz: Denn die Eintragungen im Hauptbuch werden einfach untereinander vorgenommen; der Kaufmann kann das lösen, indem er für verschiedene Konten, verschiedene Spalten verwendet – und Lichtenberg hat später die schöngeistig-philosophischen Notizen von den physikalisch-naturwissenschaftlichen getrennt. Trotzdem gibt es immer mehr Kategorien als es Spalten oder separate Notizbücher gibt.
Dieses Problem sei durch den Zettelkasten gelöst worden. Er ermögliche eine assoziative Ordnung von Zetteln und Gedanken – jenseits vorgegebener Kategorien.
Ein Zettelkasten helfe seinen Nutzer:innen, Gedanken über lange Zeit zu speichern und immer wieder in Kontakt mit neuen Gedanken zu bringen. „Gerade durch diese Eigenschaft mutiert der Zettelkasten zum Zauberkasten, denn sein Besitzer und Anwender kann seine natürlichen schriftstellerischen Fähigkeiten ins Übernatürliche steigern.“ Zudem seien viele Nutzer:innen von Zettelkästen, wie zum Beispiel die Schriftsteller Jean Paul und Arno Schmidt oder der Jurist Johann Jacob Moser auch sehr produktiv gewesen.
Im Wissenschaftsbetrieb des 19. Jahrhunderts tauchte bald die Frage auf, ob die übermäßige Nutzung von Zettelkästen nicht zu einer Verflachung der Wissenschaft führe5 – und ein etwas ketzerisches Bonmot kam auf, dass nämlich Bücher und Aufsätze eigentlich eine sehr umständliche Form seien, Gedanken vom Zettelkasten der Autor:in in denjenigen der Leser:in zu bringen.
Der Meister des Zettelkastens war natürlich Niklas Luhmann, der die Praxis des Verzettelns perfektioniert habe. Allerdings könne man an Luhmann auch sehr genau die Kosten des konsequenten Arbeitens mit dem Zettelkasten beobachten: Auf der einen Seite habe er mehr Zeit mit der Pflege seines Zettelkastens zugebracht als mit dem Verfassen neuer Werke; auf der andere Seite müsse das Arbeiten mit dieser gewaltigen Zettelmaschine eine arge Plage gewesen sein.
Dieser Plage könne man natürlich inzwischen durch die Digitalisierung der Notizen entgehen; doch trotz eindeutiger Vorteile, wie der leichteren Korrekturmöglichkeiten und der Volltextsuche ist die Mehrheit der Anwender:innen der analogen Notiz bislang treu geblieben.
Haarkötter erklärt das mit einer gewissen Scheu der Menschen, ins unreine Gedachtes einer Maschine anzuvertrauen: „Im Analogen stellen unsere Gedanken sich ihr Schreibzeug selber her, im digitalen sind wir willfährige Nutzer einer Software, die wir nicht selbst geschrieben haben und deren Algorithmen wir in aller Regel nicht durchschauen.“
Gleichzeitig könnte diese Vorliebe für die Handschriftlichkeit auch darauf zurückzuführen sein, „dass ein Computer selbst meinen gröbsten Skizzen und halb garen Gedanken den Anschein von Ordnung verleiht“6 und damit – genauso wenig wie die Schreibmaschine übrigens – fürs wilde Schreiben taugt.
Ein Beispiel dafür, dass der Schreibdrang sich auch unter widrigen Bedingungen Bahn bricht, sei Johann Jacob Mosers gewesen. Während seiner fünfjährigen Haft in der Festung Hohentwiel habe er, obwohl ihm eigentlich alles Schreibmaterial vorenthalten werden sollte, praktisch unentwegt geschrieben; er habe nicht nur nahezu jedes Blatt Papier beschrieben, dass ihm in die Hände kam, sondern auch Notizen mit einer Dochtschere in Wände seiner Zelle gekratzt. Bis zu seiner Entlassung habe er so über hundert religiöse Lieder und mehrere lange Abhandlungen verfasst..
Auch diese sind für Haarkötter „Kommunikanten ohne Kommunikat“; wozu er auch moderne Grafitti zählt: Auch sie seien unkommunikativ, wenn auch öffentlich sichtbar – und damit das Gegenteil zu Werbeplakaten, bei denen Bild und Text ausschließlich der Kommunikation dienen.
Grafitti beschränkten sie sich häufig auf reine Ego-Botschaften – und folgen damit einer langen Traditionslinie: Schon in der Steinzeit hinterließen Menschen Handabdrücke an Höhlenwänden, später kratzten Römer mit ihren Griffeln Botschaften in Hauswände und auch heute noch werden Toilettentrennwände regelmäßig mit dem Edding verschönert; neben den oft verschlüsselten Ego-Botschaften findet man auf solchen Wänden zu allen Zeiten zuverlässig Botschaften derben sexuellen oder kruden politischen Inhalts.
Haarkötter stellt fest: „Wenn es eine anthropologische Konstante in der Menschheitsgeschichte gibt, dann ist es das tiefe Bedürfnis sprachliche Spuren zu hinterlassen.“
Notizen ermöglichen das auch Menschen, die gar keine Werke hinterlassen, ja das vielleicht nicht einmal wollen. Damit haben sie auch ein demokratisches Element – jeder könne notieren oder in Haarkötters Worten: „Was ist schon das Lesen, Rezipieren und Verarbeiten der Schriften anderer, wenn man doch selbst schreiben, kritzeln, Wände beschmieren oder ein handgeschriebenes Buch verfassen kann?“
Anmerkungen:
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: John Cotton creator QS:P170,Q6227257, John Cotton’s Notebook – file 24 – page 21, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
1 Haarkötter wirft hier einen einleuchtenden Gedanken in den Raum: „Vielleicht ist Theorie ja auch nur eine spezifische Form, eine Geschichte zu erzählen.“ – Ich halte das für sehr wahrscheinlich.
2 „Beruf“ ist hier übrigens genau in dem Sinne gemeint ,in dem Max Weber es in seiner Rede Politik als Beruf meinte: Genauso wie man für und von der Politik leben kann, kann man für und vom Schreiben leben, es kann Beruf oder Berufung sein – am besten natürlich beides. (vgl. Politik als Beruf von Max Weber).
3 Dieser Gedankengang scheint mir ein bisschen zu vernachlässigen, dass Leonardo ein Werk hinterlassen hat, das die Zeit recht gut überdauert hat. Es wäre die Frage zu stellen, ob das für das Werk jener Renaissance-Kritiker auch gilt?
4 Was einen ernüchternden Gedanken im Raum stehen lässt: Was wenn die Schrift nicht erfunden wurde, um Gedanken aufzubewahren und zu erhalten, sondern vor allem um Listen und Inventare zu führen, um Handel und Wandel zu ermöglichen.
5 Eine Frage, die sich scheinbar bei jeder Innovation zu wiederholen scheint; erstaunlicherweise haben der Computer, das Internet und die Wikipedia der Wissenschaft ebensowenig geschadet wie es der Zettelkasten hat. Wie groß der Nutzen neuer Technologien ist, ist natürlich eine andere Frage und wird streitig bleiben, weil die Größe des Nutzens nicht zuletzt von der individuellen Arbeitsweise der Autor:in abhängt.
6 Das Zitat stammt aus dem Buch Ein verheißenes Land von Barack Obama, aus dem Englischen übersetzt von Sylvia Bieker, Harriet Fricke, Stephan Gebauer, Stephan Kleiner und Elke Link.
Psst, hier gibt es noch ein Geheimnis für Fußnotenleser. Manchmal dienen sogar veröffentlichte und gedruckte Texte keinem kommunikativen Zweck: „Und all diese exuberanten Fußnoten- und Verweissysteme in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, was sind die häufig anderes als Kommunikanten ohne Kommunikat.“ 😉