Der Sozialismus der Zukunft
von Thomas Piketty, aus dem Französischen übersetzt von André Hansen
C. H. Beck, 232 S., 16,95 €
Wer mit 18 kein:e Sozialist:in sei, heißt ein altes, gern Winston Churchill zugeschriebenes Bonmot, der habe kein Herz – und wer es mit 50 noch sei keinen Verstand. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty stellt in seinem Buch Der Sozialismus der Zukunft dieses Vorurteil vom Kopf auf die Füße.
„Es war für mich unbegreiflich,“ schreibt Piketty über sein 18-jähriges Ich, „dass es Menschen gab, die Marktwirtschaft und Privateigentum nicht als Teil der Lösung sahen.“ Es war das Jahr 1989, der Eiserne Vorhang fiel, der ‚Realsozialismus‘ war am Ende.
In den folgenden drei Jahrzehnten wandelte sich Pikettys Sichtweise – und inzwischen ist er überzeugt, „dass wir wieder über die Überwindung des Kapitalismus nachdenken müssen“. Dieser Wandel mag mit seiner Forschung über die historische Entwicklung sozialer Ungleichheit zusammenhängen, die er in zwei dickleibigen Büchern dargelegt hat.1
Daneben schreibt Piketty seit einigen Jahren eine Kolumne für die Zeitung Le Monde; die Kolumnen der Jahre 2016 bis 2021 werden im vorliegenden Band abgedruckt, ergänzt um eine neu geschriebene und recht umfangreiche Einleitung.
Das Buch ist daher nicht durchkomponiert: Piketty wiederholt sich, oft sind die tagespolitischen Anlässe, die zu dem jeweiligen Text geführt haben längst vergessen und natürlich bleiben sie im flacheren Wasser; aber das ist auch ein Vorteil: Mit diesem Band bietet Piketty einen einfachen und vielfältigen Zugang zu seiner Forschung und seinen Einsichten, der keine tausend Seiten benötigt.
Die Grundannahme von Pikettys Überlegungen ist, dass „Ungleichheit […] ideologischer und politischer, nicht ökonomischer und technischer Natur [ist].“ Das bedeutet: Die Verringerung der Ungleichheit ist eine Aufgabe, die mit politischen Mitteln gelöst werden kann und muss.
Als Lösung skizziert Piketty „einen neuen, partizipativen und dezentralen, föderalen und demokratischen, ökologischen, diversen und feministischen Sozialismus“, den er aber ausdrücklich nicht als fertiges Rezept verstanden wissen möchte; denn einfache Kochrezepte zur Überwindung der sozialen Ungleichheit könne und werde es nicht geben. „Dieser Prozess muss langfristig angelegt und von Demut und Hartnäckigkeit geprägt sein, insbesondere in Anbetracht des Ausmaßes früherer Misserfolge und der Größe künftiger Herausforderungen.“
Wir seien längst auf dem Weg: Heute sind Einkommen und Vermögen gerechter verteilt, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die bedeutendsten Treiber dieser Entwicklung seien einerseits die beiden Weltkriege gewesen, die auch zu einer immensen Vernichtung von Vermögenswerten geführt haben und andererseits gezielte staatliche Eingriffe, wie die Einrichtung eines starken Sozialstaates und eine bis dahin ungekannte Bildungsexpansion. Dadurch sei ein starker und selbstbewusster Mittelstand entstanden.
Allerdings habe sich dieser Prozess seit den 1980er Jahren stark verlangsamt – und sei in einigen Punkten sogar zum Stillstand gekommen. Piketty macht dafür die neoliberale Rolle rückwärts der Regierungen von Ronald Reagan und Margret Thatcher verantwortlich.
Seine Schlussfolgerung daraus lautet: „Bildungsgerechtigkeit und Sozialstaat reichen nicht aus. Um wirkliche Chancengleichheit zu erreichen sind alle Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen.“ Dazu sei eine massive Umverteilung von Vermögen und Eikommen in (idealerweise) weltweitem Maßstab erforderlich.
Dabei schlägt Piketty vor, eine Vermögensverteilung anzustreben bei der möglichst viele Menschen über ein kleines Vermögen verfügen, das eine gewisse Sicherheit garantiert – das könne man zum Beispiel erreichen indem jeder eine garantierte Mindesterbschaft erhält – in seinem Beispiel sind es 120.000 €, die jeder:r zu seinem 25. Geburtstag erhält.
Außerdem möchte Piketty den Sozialstaat gerne ausgebaut, ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführtund die Ausgaben für Bildung – gerade jenseits der Spitzenforschung und der Eliteuniversitäten – erhöht sehen. Zur Finanzierung schlägt er „progressive Steuern auf Einkommen, Vermögen und CO2-Emissionen“ vor.
Besonders wichtig ist Piketty dabei die Einführung einer progressiven Vermögenssteuer; eine Progression bei der Vermögenssteuer sei erforderlich, weil Vermögen erhebliche Größenvorteile haben: Er spricht von einem„explosiven Wachstum der größten Vermögen“ – trotz negativen Sparzinsen erreichen diese problemloszweistellige Wachstumsraten.
Hinsichtlich der Höhe des Steuersatzes ist Piketty sehr offen – ein Rechenbeispiel weist einen Höchststeuersatz von 90 % für jene Vermögen auf, die um mehr als das 10.000-fache des Durchschnittsvermögens übersteigt;2ebenso sollten größere und größte Erbschaften deutlich stärker besteuert werden.
Flankierend schlägt Piketty auch eine stärkere Progression der Einkommenssteuer für große Einkommen vor , umdem Staat ausreichende Mittel für seine wachsenden Aufgaben zur Verfügung stellen.
Gern werde gegen solche Vorschläge eingewandt: Eine hohe Vermögenssteuer führe zu verstärkter Kapitalflucht ins Ausland und eine hohe Einkommenssteuern wirke innovationshemmend. Piketty weist darauf hin: Es gäbe es für eine solche Behauptung keine empirischen Belege3 – allerdings sei das Wirtschaftswachstum der USA in den Jahren von 1930 bis 1980 (als dort sehr hohe Einkommens- und Vermögenssteuern erhoben haben) gut doppelt so hoch gewesen wie in der Zeit seitdem.
Dennoch sollte das Problem der Einkommens- und Vermögensungleichheit langfristig global gelöst werden. Piketty möchte zunächst in Europa bzw. dem Euro-Raum anfangen; aus seiner Sicht wäre es sinnvoll, wenn sichzunächst die Euro-Länder um einheitliche Steuer- und Sozialstandards bemühten, anstatt sich gegenseitig zu unterbieten.
Da Piketty nicht glaubt, dass die gegenwärtigen EU-Institutionen einstimmig eine solche Kompezenzerweiterung beschließen werden, schlägt er vor, dass Frankreich und Deutschland gemeinsam vorangehen könnten: Zum Beispiel durch Einrichtung einer von den nationalen Parlamenten gewählten parlamentarischen Versammlung, die gemeinsame Steuer- und Sozialstandards festlegen könnte.3
Zusätzlich sollte auch der Diskurs über den weltweiten Freihandel verändert werden, um zu verhindern, dass er zum Sozialdumping missbraucht wird: „Freihandel ist an die Einigung auf verpflichtende soziale Ziele zu binden, die ermöglichen, die reichsten und mobilsten Wirtschaftsakteure zur Kasse zu bitten und so ein nachhaltiges und gerechtes Entwicklungsmodell zu fördern.“
Eine andere Überlegung Pikettys macht auch klar, warum die Verringerung der sozialen Ungleichheit keine Schönwetteraufgabe ist, die man irgendwann in Zukunft mal angehen könne: „Zuallererst kann eine sinnvolle Umweltpolitik nur dann bestand haben, wenn sie von einem globalen politischen Programm zur Bekämpfung von Ungleichheit, zur dauerhaften Zirkulation von Macht und Eigentum, sowie zur Neudefinition ökonomischer Indikatoren flankiert wird.“
Dies ergebe sich schon daraus, dass heute gut die Hälfte des weltweiten CO2-Ausstoßes auf das Konto der reichsten 10 % der Weltbevölkerung gehen. Wenn diese nicht ihren gerechten Anteil an den gewaltigenAnpassungen tragen, die zur Begrenzung des Klimawandels erforderlich sind, seien die Klimaschutz-Bemühungen jeder Regierung zum Scheitern verurteilt: „Ein Maßhalten beim Energieverbrauch kann nur mit einem Maßhalten in ökonomischer und sozialer Hinsicht einhergehen, nicht mit maßlosem Vermögen und Lebensstilen.“
Verlieren die progressiven und grünen Parteien diesen Zusammenhang aus den Augen besteht die Gefahr, dass sie doppelt versagen: Es ihnen nämlich weder gelingen wird, den Klimawandel wirksam zu bekämpfen und auf 1,5 Grad zu begrenzen, noch nachhaltige Mehrheiten für Ihre Politik zu gewinnen, weil sie die Gegner einer konsequenten progressiven Politik stärken und ihnen Wähler:innen zutreiben, die von den anstehenden Reformen verunsichert sind und um das eigene Auskommen fürchten.
Gerade die Gegner der Demokratie haben in der Vergangenheit ein erstaunlich feines Gespür dafür bewiesen, wie sie die Unterschichten mit einer Mischung aus nationalistischer Rhetorik, Antiintellektualismus und der Hege von Vorurteilen für sich einnehmen können3 – selbst wenn es ihnen nicht gelingt, Mehrheiten für sich gewinnen, könnte es ihnen doch recht gut gelingen, progressive Mehrheiten zu verhindern.
Im Augenblick zeigen progressive Parteien jedoch eher die Tendenz, Regierungsbündnisse einzugehen, die zwar im Detail viele Verbesserungen bringen, aber den großen Zusammenhang aus dem Auge zu verlieren scheinen: Weder gelingt es ihnen den Einstieg in eine angemessene Besteuerung großer Vermögen und Einkommen zu finden, noch den ‚Normalverbrauchern‘ ein erneuertes Versprechen sozialer Sicherheit und Würde zu geben und ihnen damit eine Brücke in eine Zukunft zu bauen, in der so viele Gewissheiten in Frage stehen werden.
Damit machen sie einen Weg noch weiter und beschwerlicher, und schlagen Pikettys einleuchtenden Rat in den Wind: „Der Weg wird lang und steinig sein. Ein Grund mehr, sich sofort an die Arbeit zu machen.“
Anmerkungen:
Der Verlag C. H. Beck hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: The Library of Congress, Socialists in Union Square, N.Y.C., als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.
1 Es handelt sich dabei um Das Kapital im 21. Jahrhundert und Kapital und Ideologie.
2 Hierzu ein Beispiel: Laut DIW lag das Nettovermögen eines deutschen Haushalts 2012 bei 83.000 € [Quelle]; wendet man diese Zahl auf Pikettys Beispiel-Tabelle an würde dieser Höchstsatz auf Vermögen bzw. den Bestandteil eines Vermögens erhoben, der 830.000.000 € übersteigt.
3 Immerhin repräsentieren beide Länder gemeinsam gut 44 % der Bevölkerung der Euro-Zone – könnte man noch Italien und Spanien ins Boot holen wären es schon ca. 76 %.
4 Ein Eindrucksvolles reales Beispiel für diesen Stil liefern natürlich Donald Trump und auch Sebastian Kurz, die Natascha Strobl in ihrem lesenswerten Buch Radikalisierte Konservatismus beschrieben hat (von mir besprochen gemeinsam mit dem Buch Die falschen Freunde der einfachen Leute von Robert Misik am 22.10.2021; die Besprechung findest du [hier]), währen Sinclair Lewis in seinem Buch Das ist bei uns nicht möglich (von mir besprochen am 12.02.2012; die Besprechung findest du [hier]) ein eindrucksvolles fiktives Beispiel dafür liefert.