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Literatur & Kultur

Ein Monat voller Abschiede

Februar 33 – Der Winter der Literatur
von Uwe Wittstock
C. H. Beck, 266 S., 24,00 €

„Nach der Abfahrt stellt er sich an das Gangfenster und betrachtet die Lichter der Stadt, die an ihm vorbeigleiten. Er liebt sie sehr. Wie oft ist er hier am Anhalter Bahnhof angekommen, hat die gleichen Lichter gesehen und erleichtert aufgeatmet, endlich wieder zu Hause zu sein.“ – Trotzdem ist der Schriftsteller Alfred Döblin am Abend des 28. Februar 1933 froh, Berlin unbehelligt verlassen zu können. Denn nach dem Reichstagsbrand am Vortag machen die Nazis Jagt auf ihre Gegner, darunter zahllose Künstler und Schriftsteller. Berthold Brecht und Döblin gelingt die Flucht buchstäblich im letzten Moment, andere wie Carl von Ossietzky und Erich Mühsam werden von den Nazis gefangengenommen, in Lager gesperrt und schließlich ermordet.
Seit Hitlers Ernennung zum Reichskanzler sind damals etwa vier Wochen vergangen; in dieser Zeit gelang es den Nazis, die Weimarer Demokratie, den Rechtsstaat und die Grundrechte abzuschaffen und eine Diktatur zu errichten. Diesen Monat zwischen Demokratie und Diktatur beschwört Uwe Wittstock in Februar 33 – Der Winter der Literatur herauf. Oft sind es traurig-melancholische Bilder und Szenen, immer wieder Abschiede, die Wittstock geschickt mit Berichten aus der Regierung, Meldungen zum Stand der Grippe-Welle und über die Toten und Verletzten bei Straßenkämpfen zu einem eindringlich-intensiven kollektiven Tagebuch montiert.
Im Zentrum des Buches stehen die Geschichten von Schriftstellern und Journalisten, Künstlern und Intellektuellen. Für diese Wahl gibt Wittstock zwei Gründe an: Zum einen gehörten sie mit zu den Gruppen der Bevölkerung bei denen sich oft bereits im Februar 1933 entschied, „wen es treffen würde: wer um sein Leben fürchten und fliehen musste und wer antrat, um in ihrem Windschatten Karriere zu machen.“ Zum anderen „wissen wir [über sie] unvergleichlich mehr Persönliches als über jede andere Gruppe. Ihre Tagebücher wurden gesammelt, ihre Notizen archiviert, ihre Erinnerungen gedruckt und von Biografien mit detektivischem Ehrgeiz durchleuchtet.“

Ein wichtiger Erzählstrang in Februar 33 handelt von der Gleichschaltung der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste. Wittstock beschreibt die Sektion als einen Ort, an dem sich sehr unterschiedliche Schriftsteller begegnen und die Anhängern einer deutschtümelnd-provinzialistischen, gelegentlich völkischen Literatur auf diejenigen einer kosmopolitisch-modernen treffen. Dieser Streit – von jeher eminent politisch – wird nun durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler weiter tagespolitisch aufgeladen – und am Ende die Akademie spalten.
Anfang Februar scheint noch alles in den gewohnten Bahnen zu laufen; „Sitzungsroutine“ nennt Wittstock das entsprechende Kapitel – und genau darum geht es: Das zähe Ringen der Abteilung um eine Stellungnahme zu einer Literaturgeschichte, die „hemmungslos antisemitisch und völkisch tendenziös“ sei. Doch an jenem Abend wird den Versammelten klar: Die Akademie kann diese Stellungnahme nicht veröffentlichen, „was vor ein paar Tagen noch ein kulturpolitisches Statement war, würde jetzt unweigerlich als Frontalangriff auf den neuen Reichskanzler verstanden.“
Gleichzeitig sind nicht alle Akademie-Mitglieder so zurückhaltend: Heinrich Mann, der Präsident der Sektion, zum Beispiel engagiert sich im beginnenden Wahlkampf gegen die Nazis und unterschreibt einen „Dringenden Appell, der auf Littfaßsäulen eine Einheitsfront von SPD und KPD gegen Faschismus und Barbarei fordert.“
Mann ist begeisterter Anhänger von Republik und Demokratie – und deswegen den Nazis verhasst. Sie nutzen die Gelegenheit, um Mann zum Austritt aus der Akademie zu zwingen.
Wenige Tage später erfährt er, dass die Nazis planen, seinen Reisepass einzuziehen und ihn zu verhaften. Der französische Botschafter hält ihn für so gefährdet, dass er ihm sogar anbietet, in der Botschaft zu übernachten. Zwei Tage später macht Mann sich mit einem kleinen Koffer auf den Weg zu einem Freund nach Frankreich – er wird nie nach Deutschland zurückkehren.
In der Sektion Dichtkunst löst Manns erzwungener Rücktritt eine ziemlich heftige Auseinandersetzung aus: Auf der einen Seite stehen die Anhänger Manns, wie zum Beispiel Alfred Döblin, die enttäuscht über Manns freiwilligen Rücktritt sind. Döblin und einige Kollegen hatten Mann aufgefordert, sich aus der Akademie herauswerfen zu lassen, um dann selbst unter Protest die Akademie verlassen und einen Skandal provozieren zu können.
Auf der anderen Seite findet sich zum Beispiel der Lyriker Gottfried Benn: Der hält es für opportun, dass die Regierung sich gegen einen Abteilungspräsidenten zur Wehr setzt, der gegen sie Wahlkampf macht und ihnen Barbarei vorwirft. Allerdings wird Benns Versuch, sich bei den neuen Machthaber beliebt zu machen und so seine Karriere als Dichter zu fördern, scheitern: Seine expressionistische Dichtung ist viel zu weit vom völkischen Ideal entfernt, das sich die Nazis wünschten.
Zwischen die Fronten gedrängt finden sich Figuren wie der Sekretär der Sektion Dichtkunst, der Lyriker Oskar Loerke, wieder, der – von der Angst getrieben, den Posten bei der Akademie und damit einen Teil seines Auskommens zu verlieren – alles unternommen hat, um sich dem Akademiepräsidenten und damit den Nazis nützlich zu machen – trotzdem verliert er seinen Posten noch im März 1933.

Ein anderer Erzählstrang geht dem Schicksal von Berthold Brecht nach: Schon in den ersten Februartagen werden Aufführungen seiner Stücke abgesagt, weil die Nazis mit Störungen gedroht haben, oder gleich ganz verboten wurden. 
Brecht versteckt sich zunächst in einem Krankenhaus – und lässt eine längst geplante Leisten-Operation ausführen. Dort ist er nicht so leicht aufzufinden, denn: „Krankenhäuser dagegen haben für ihre Patienten keine polizeiliche Meldepflicht, schon deshalb sind sie ein hervorragendes Versteck mit angenehmer Rundumversorgung.“
Auch er flieht – wie Döblin – unmittelbar nach dem Reichstagsbrand nach Österreich; seine jüngste Tochter Barbara muss Tage später in einer riskanten Aktion mit dem Pass eines anderen vierjährigen Kindes über die Grenze gebracht werden.
Daneben schildert Wittstock auch das Schicksal einer Reihe von weniger bekannten Künstlern und Schriftstellern.
Zum Beispiel vom bayrischen Volksschriftsteller Oskar Maria Graf, der ohne seine Lebensgefährtin Mirjam Sachs fliehen musste, weil sie bei der Wahl am 5. März 1933 ihre Stimme gegen die Nazis abgeben wollte – und erst danach floh.
Vom Chefredakteur des Berliner Tageblatts, Theodor Wolff, der noch am Abend des Reichtagsbrandes mitten aus dem Fegefeuer der einlaufenden Meldungen flieht.
Von Klaus und Erika Mann, die aus dem Urlaub nach München zurückkehren, dort einen letzten Karneval feiern und ihren Vater Thomas Mann von einer Rückkehr in seine Villa abhalten; bei ihrer Flucht schmuggelt Erika auch das Manuskript von Joseph in Ägypten in die Schweiz.
Von der Gerichtsreporterin Gabriele Tergit, die nur durch eine sehr solide Tür und gute Kontakte zur Polizei vor einer Entführung in einen Folterkeller der SA gerettet wurde.

Zwei andere Beobachtungen konnte ich bei der Lektüre von Februar 33 machen: Ab Mitte des Monats geistert immer wieder das Gerücht durch die von Wittstock erzählten Szenen, dass die Nazis schwarze Listen führen und eine große Verhaftungswelle vorbereiten – zu Anfang noch im Zusammenhang mit einem fingierten Attentatsversuch auf Hitler.
Das finde ich deswegen so bemerkenswert, weil das gut erklärt, warum die Nazis nach dem Reichstagsbrand so schnell handeln konnten: Die Planungen waren abgeschlossen – sie hatten längst alle Vorbereitungen getroffen, um gegen ihre Gegner loszuschlagen.
Ob der Brand nun von den Nazis gelegt wurde oder eine andere Ursache hatte: Sie nutzten ihn mit brutaler Konsequenz, um ihre Pläne in die Tat umzusetzen.
Außerdem ist da die Wahl am 3. März 1933. Es ist verständlich, dass die demokratischen Parteien den Wahlkampf ernst nahmen – immerhin hoffen sie auf eine Gelegenheit, Hitler wieder loszuwerden. Erstaunlicher ist, dass auch die Nazis, die geschworenen Feinde der Demokratie und des Parlamentarismus, den Wahlkampf ernst nehmen und versuchen eine parlamentarische Mehrheit zu erringen.*
Natürlich war ein fairer Wahlkampf längst nicht mehr möglich. Wo es nur ging legten die Nazis der Opposition Steine in den Weg und machten oft deren Wahlkampf ganz unmöglich. Gleichzeitig wurde die Wahl selbst offenbar nur in geringem Umfang manipuliert; denn trotzdem sie ein Spiel mit gezinkten Karten war: Die Wahl brachte Hitler keine absolute Mehrheit. Er war weiterhin auf einen Koalitionspartner angewiesen.
Trotzdem, stellt Wittstock fest, waren die exilierten Schriftsteller und Intellektuellen vom Ergebnis der Wahl schockiert. Tatsächlich dürfte der Wahlausgang relativ unerheblich gewesen sein – so sehr Hitler an der nach der Legitimation seiner Herrschaft durch den Wähler gelegen war, so wenig scheint es vorstellbar, dass er nach einer Niederlage einfach zurückgetreten wäre.
„Für die Zerstörung der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs,“ stellt Wittstock am Ende von Februar 33 fest – und vielleicht erschreckt die Leser:in dieses Fazit um so mehr, als sie selbst in den letzten Jahren erleben konnte, wie sehr sich – aus ganz anderen Gründen – das gewohnte Leben von einer Woche auf die andere völlig verändert hat.

Anmerkungen:

Der Verlag C. H. Beck hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: Waldemar Franz Hermann Titzenthaler creator QS:P170,Q91682, Anhalter Bahnhof und Askanischer Platz, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

* Die Historikerin Hedwig Richter vertritt in ihrem Buch Demokratie – eine Deutsche Affäre die These, dass den Nazis weiterhin und über den März 1933 an dem „miteinander verschmelzenden Legitimations- und Propagandaeffekte[n]“ gelegen war; das Buch von Hedwig Richter habe ich in diesem Blog am 02.07.2021 besprochen; die Besprechung findest du [hier].