Die Entdeckung der Currywurst
von Uwe Timm
Kiepenheuer & Witsch, 224 S., 18,00 €; DTV, 192 S., 10,00 € (Taschenbuch)
„Hühnerfleisch mit Curry, das schmeckte, […], wie ein Garten. Geschmack aus ner anderen Welt.“ So beschreibt Bootsmann Bremer in der Novelle Die Entdeckung der Currywurst von Uwe Timm den Geschmack des Gewürzes, das er vor dem Krieg in Indien probiert hatte; es helfe „gegen die Schwermut und gegen dickes Blut.“
Doch an Curry ist längst nicht mehr zu denken, als der nun 24-jährige Bootsmann der Kriegsmarine im April 1945 Lena Brückner kennenlernt; zufällig, in der Schlange vor einem Lichtspielhaus in Hamburg. Sie verbringen den Abend miteinander und Lena bietet ihm ein Quartier für die Nacht.
Als er in ihrer Wohnung den Mantel auszieht, fällt ihr sofort ein ungewöhnlicher Orden auf: Das Deutsche Reiterabzeichen – sein Glücksbringer: „Überall, wo er damit auftaucht, lachen die Leute, […]. Und er komme mit allen ins Gespräch;“ denn es „erinnere jeden an diesen Uraltwitz von der berittenen Gebirgsmarine.“
Diesem Glücksbringer hatte Bremer es zu verdanken, dass er von dem gefährlichen Einsatz auf einem Vorpostenboot in einen Stab nach Oslo versetzt wurde, wo er die Seekartenkammer beaufsichtigte.
Eigentlich ist Bremer auf dem Rückweg nach Norwegen. Doch er bliebt in Kiel hängen und wird zu einer Einheit abkommandiert, „die im Endkampf in der Lüneburger Heide eingesetzt werden sollte.“ – Ein Himmelfahrtskommando, auf das Bremer verständlicherweise wenig Lust hat.
Als er am nächsten Morgen los muss, reicht ein „Komm“ von Lena – und er entscheidet sich, bei ihr zu bleiben und die Ankunft der Briten abzuwarten. „So wurde er, Herrmann Bremer, ein Bootsmann, fahnenflüchtig.“
Das ist der Auftakt zu der Geschichte, die die hochbetagte und inzwischen erblindete Lena Brückner dem Erzähler bei Torte und Kaffee an sieben Nachmittagen in einem Harburger Altenheim erzählt. Sie habe den Deserteur Bremer damals einige Tage in ihrer Wohnung verborgen. Sogar etwas länger als es eigentlich nötig war, weil er ihr seine Frau und sein Kind verschwiegen hatte.
Als kleine Rache verschweigt Lena ihm nun das Ende des Krieges; stattdessen tischt sie ihm die Geschichte auf, dass die Deutschen sich mit den Westalliierten verbündet hätten– und nun gemeinsam gegen die Sowjets marschieren.
Lena, über vierzig Jahre alt, vom Ehemann für eine andere Frau verlassen, die Kinder fast erwachsen und bereits aus dem Haus, genießt die Zeit mit dem jungen Liebhaber. Gleichzeitig wächst die Kluft zwischen der Realität draußen und Bremers Kenntnisstand: Er brennt auf neue Nachrichten über den Kampf gegen die Sowjets, die Lena erfinden muss.
In der Einsamkeit ihrer Wohnung fiebert der eher unmilitärische Bremer bei dieser Rückeroberung mit – und zugleich sitzt er in der Falle: Als Deserteur kann er nur auf Straffreiheit hoffen, wenn das Deutsche Reich vollständig besiegt wäre.
Das Ende kommt überraschend – und einige Tage früher als geplant: Lena sieht in der Zeitung Bilder von Leichenbergen und halb verhungerten Gefangenen in den Konzentrationslagern. Sie hatte während des Krieges mitbekommen, dass jüdische Mitbürger:innen deportiert wurden. „Und sie hatte sich natürlich gefragt, wohin die Leute gekommen waren. Und jeder ahnte, irgendwo in den Osten, in Konzentrationslager. Dort verschwanden sie. Der Osten ist weit.“
Als sie Bremer davon erzählt, hält er das alles für „Feindpropaganda“, mit dem Ziel Unfrieden zwischen den neuen Verbündeten zu sähen – ihm ist der Sieg über die Sowjetunion viel wichtiger. Da platzt es aus Lena heraus: „Der Krieg ist aus. Verstehste, aus. Längst. Aus. Vorbei. Futschikato. Wir haben ihn verloren, total. Gott sei Dank.“ Nach diesem Geständnis flüchtet sie – bei ihrer Rückkehr ist Bremer verschwunden.
Für Lena Brückner hat das Kriegsende weitere Folgen: Sie verliert ihre Stelle als Leiterin einer Behördenkantine, ihr Mann und ihre Kinder kehren zurück – und sie ist wieder Hausfrau.
Die Rückkehr in diese einsame Tätigkeit langweilt Lena zutiefst: „Hatte mal ne Kantine geleitet, war mit Leuten zusammen, war ne schöne Zeit: telefonieren und organisieren.“ – Und ihr Mann ist immer noch der notorische Schürzenjäger von einst.
Doch Lena ist nicht mehr dieselbe: Sie ist während des Krieges zu einer selbstbewussten Frau herangereift – und lässt sich nicht mehr von dem Charme ihres auf dem Kamm blasenden Ehemannes einwickeln. Das Ende dieser Beziehung zeichnet sich schnell ab – und es kommt dann doch überraschend.
Als er Lena mitten in der großen Wäsche auffordert, ihm eine kalte Flasche Bier aus der Eckkneipe zu holen, ist das Maß voll: Sie bittet ihn die Tür zu öffnen, es habe geklopft. Er öffnet die Wohnungstür, geht raus und blickt. Lena wirft die Tür zu – und wer steht draußen: Er.
Ein kurzes Zetern und Hämmern an der Tür, eine Ermahnung der Nachbarn und die ohnehin fragwürdig gewordene Herrschaft des Patriarchats im Hause Brückner schleicht sich auf Nimmerwiedersehen in Pantoffeln die Treppe herunter. Der Preis dieser Befreiung: Lena muss nun selbst für den Unterhalt ihrer Familie sorgen.
Sie kann eine alte Imbissbude auf dem Großneumarkt pachten und es gelingt ihr Wurst, Ketchup und alles notwendige zu organisieren.
Eine große Hilfe ist ihr dabei das Deutsche Reiterabzeichen, das Bremer mit seiner Uniform bei ihr zurückgelassen hatte: Ein britischer Offizier möchte das Abzeichen für seine Ordenssammlung erwerben. Er bietet einen guten Preis, denn anders als Ritterkreuze, Verwundetenabzeichen und Narvikschilde ist es selten – und ein bisschen kurios.
Als alles perfekt scheint, taucht eine Widrigkeit auf: Ihr Tauschpartner kann kein Pflanzenöl herbeischaffen, sondern „entweder fünf Seiten Speck anbieten oder eine Kilodose Currypowder.“
Ohne zu zögern – vielleicht an Bremers Erzählung denkend – entscheidet sich Lena „ohne jeden ökonomischen Sinn und Verstand“ für den Curry.
Auf der Rückfahrt bereut sie: Sie öffnet die Dose – und der Curry schmeckt nicht. Konsterniert stapft sie beladen mit Ketchup-Flaschen und der offenen Curry-Dose die Treppe hoch. Sie stolpert. Einige zerbrochene Ketchup-Flaschen und verschüttetes Curry-Pulver bleiben auf der Treppe liegen. „War n einziger Matsch.“
Beim Aufkehren fasst Lena in den Ketchup-Matsch – und probiert ihn. Der Rest ist abschmecken – die Currywurst ist entdeckt.
Tage später serviert sie an ihrer neu eröffneten Bude die ersten Currywürste – und trotz des happigen Preises stehen die Leute Schlange.
Gleichzeitig erzählt die Novelle nicht nur die Geschichte von Lena Brückner, sondern auch die des Erzählers: Der ist das fiktionalisierte Alter Ego des Autors – und kennt Lenas Imbiss-Bude und ihre Curry-Wurst seit den späten 1940er Jahren.
Beide waren für ihn ein lebendiges Stück Erinnerung, ein Anlaufpunkt bei seinen jährlichen Besuchen in seiner Heimatstadt. Der Schmerz über diesen Verlust ist es, der ihn dazu treibt nach Lena zu suchen und ihre Geschichte zu erzählen.
Damit ist Timms Novelle auch eine bemerkenswerte Variation zu einem wiederkehrenden Thema der deutschen Nachkriegsliteratur: Dem Gedanken, verlorene Heimat, verlorene Orte der eigenen Kindheit durch Literatur zurückzugewinnen. Nur anders als Günter Grass in Die Blechtrommel und Siegfried Lenz in So zärtlich war Suleyken verlor Timms Erzähler seine Heimat nicht durch Krieg, Flucht und Vertreibung, sondern einfach indem sie langsam in der Zeitentiefe versank.
Zwar kann er noch durch die Straßen seines Viertels wandern, doch längst wohnen hier keine Hafen- und Werftarbeiter mehr. Die Gegend ist schick geworden. „In den früheren Milch-, Kurzwaren- und Kolonialwarenläden hatten sich Botiquen, Coiffeurs und Kunstgalerien eingerichtet.“
Für den Erzähler sind die Nachmittage bei Lena Brückner zugleich der Versuch die eigene Vergangenheit, oder vielmehr: ihre Wurzeln, zu erforschen. Daher bleibt der Erzähler sichtbar, obwohl er nur in der Rahmenhandlung auftritt und in Lenas Erzählung keine große Rolle spielt. Außer, dass er bei Lena Brückner seine erste Currywurst gegessen hat und bei jenem Tauschgeschäft mit dem Curry zugegen war, erfährt man wenig über sein jugendliches Ich.
Geht es um die Wurst, stellt sich die Frage: Wie viel Realität steckt in Timms Novelle? – Doch einen Antwort gibt der Autor nicht. Kann sein, dass die Currywurst in Hamburg entdeckt wurde. Kann auch sein, dass Timm alles erfunden hat. Wo die Linie zwischen Realität und Fiktion verläuft, bleibt unklar – und ein bisschen macht genau das den Reiz der ganzen Novelle aus.
Für Hamburg als Ursprungsort mag sprechen, dass die Currywurst in eine Stadt mit Hafen passt; an einen Ort, wo Gewürze als aller Herren Länder umgeschlagen und gehandelt werden; „schon der Name verrät es, er verbindet das Fernste mit dem Nächsten, den Curry mit der Wurst.“
Anmerkungen:
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich:Lotosesser, St.Pauli Landungsbrücken 1955, CC BY-SA 3.0