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Gesellschaft & Politik

Das Zeitalter der globalen Verantwortung

Zeitenbruch – Klimawandel und die Neuausrichtung der Weltpolitik
von Joschka Fischer
Kiepenheuer & Witsch, 134 S., 16,00 €

Die Welt brennt.1 Rund um den Globus werden jedes Jahr immer größere Flächen ein Raub der Flammen: In Kalifornien brannten in den letzten zwei Jahren größere Flächen ab als in den 87 Jahren davor;2 die Moorbrände in Sibirien und Russlands Fernem Osten erlöschen nicht mal mehr im Winter.3
Die Brände sind eine Folge der globalen Erwärmung, die die Menschheit heraufbeschworen hat, indem sie seit der Industriellen Revolution versucht, die eigene Entwicklung von der planetarischen Evolution zu entkoppeln und die Natur zu beherrschen. Dieser Versuch war in vielen Feldern ein großer Erfolg: Durch bessere Ernährung und Hygiene und den medizinischen Fortschritt wurde die Lebensqualität vieler Menschen verbessert.
„Ob diese Geschichte auch weiterhin als ‚Erfolg‘ zu bezeichnen ist, wird gerade in unseren Tagen, in denen die Kosten dieser beeindruckenden Entwicklung zunehmend sichtbar werden, immer zweifelhafter,“ stellt der ehemalige Außenminister Joschka Fischer in seinem Buch Zeitenbruch – Klimakrise und die Neuausrichtung der Weltpolitik fest. 
Die Menschheit müsse als Ganzes Verantwortung übernehmen und die Klimakrise in den Griff bekommen, weil ansonsten die menschliche Spezies keine Zukunft hat. „Es stellt sich also nicht die Frage nach der Zukunft der Erde an sich, sondern der Zukunft der Erde für uns.“

In seinem Buch geht Fischer der Frage nach, welche Auswirkungen dieser „Zwang zur planetaren Verantwortung“ auf die Art haben wird, wie Staaten miteinander umgehen; denn durch klassische Machtpolitik kann die Klimakrise nicht abgewendet werden. „Es wird zukünftig nicht mehr um die Eroberung unserer Erde […] gehen, sondern um deren Bewahrung.“
Dazu muss an die Stelle einer auf Macht und Konkurrenz basierenden Weltordnung eine „Logik der Kooperation“ treten. „Fortan wird es darum gehen müssen, auch gemeinsam global [zu] handeln.“ Die vor ihnen liegenden Herausforderungen werden auch die mächtigsten Staaten nicht alleine bewältigen können. Nicht nur für die Klimakrise, sondern zum Beispiel auch für eine weltweite Pandemie gilt: Globale Probleme erfordern globale Antworten.
Eine wichtige Frage ist: Wo und wie können diese gemeinsamen Antworten gefunden werden. Fischer schlägt die UNO als ein gemeinsames Dach vor, unter dem die Staaten der Welt globale Probleme lösen könnten. Schließlich sei sie „das Forum der Staaten der Welt“ – und könnte zu diesem Zweck gestärkt und umgebaut werden. 
Ein Vorbild könnte die Europäische Union sein. Zwar hat sie es nicht geschafft, selbst zu einem machtpolitisch relevanten Akteur zu werden, doch gleichzeitig wirkt sie durch ihr Vorbild: als lang existierendes Projekt multilateraler Zusammenarbeit.
Eine stärkere Kooperation der Staaten bedeutet nicht, dass Rivalitäten von heute auf morgen verschwinden werden; auch dafür ist die EU ein gutes Beispiel. Ein anderer Konflikt, der das 21. Jahrhundert noch für lange Zeit prägen wird, ist der zwischen den USA und China. Dabei geht es einerseits um geostrategische Fragen, die sich durch Kompromisse lösen ließen.
Auf der anderen Seite steht das politische System Chinas auch in direkter Konkurrenz zu den liberalen Demokratien des Westens, die sich mit dieser Herausforderung auseinander setzen müssen – und zudem auch von innen bedroht sind: Denn während es in China der Staat ist, der seine Bürger überwacht und bewertet, sind es in den westlichen Demokratien mächtige Internetkonzerne die riesige Datenbestände über Menschen horten, um damit Geld zu verdienen. Für Fischer ist die Bedrohung aus dem Sillicon Valley die größere, weil sie sich schrittweise und mit einem freundlichen Gesicht in die Demokratien einschleicht.
Trotzdem ist Fischer ist überzeugt, dass die Demokratie letztlich das überlegene System ist: „Denn nur die offenen Demokratien des Westens werden die notwendigen heftigen Zielkonflikte führen und daraus lernen können.“
Gleichzeitig werden auch in demokratischen Staaten Experten bei Regierungsentscheidungen eine wachsende Rolle spielen – was für Fischer relativ unproblematisch ist.
Leider dröselt er nicht auf, wie die Macht zwischen Experten und Volk verteilt werden soll. Allemal erscheint es sinnvoll, den Experten eine beratende Rolle zuzuweisen. Die Zielkonflikte, von denen Fischer selbst spricht, werden sie sicherlich nicht auflösen können. Das bleibt Aufgabe der Politik und bedarf mehr denn je einer verantwortungsvollen Innenpolitik.
Eine weitere Schwachstelle von Fischers Ausführungen ist, dass er auf die innenpolitischen Konsequenzen des „Zwangs zur planetaren Verantwortung“ nur sehr knapp eingeht. Doch scheint hier eine analoge Entwicklung denkbar, vielleicht sogar erforderlich – auch hier könnte eine Logik der Kooperation viele Vorteile zu bringen.
Auch an anderen Punkten rechnet Fischer erstaunlich wenig damit, dass Menschen durch die Klimakrise ihre Gewohnheiten ändern könnten: Er meint zum Beispiel, dass nur eine moderne Nahrungsmittelindustrie und nicht eine bäuerliche Landwirtschaft auf lange Sicht die wachsende Weltbevölkerung ernähren kann – und geht dabei nicht darauf ein, dass ein gewaltiger Teil der weltweiten Getreideernten in die Fleischproduktion geht. Ebenso ist das private Auto für ihn Dreh- und Angelpunkt der menschlichen Mobilität; den Gedanken, dass Autos weit mehr Schäden anrichten als ihre Abgase und dass es viele gute Gründe gibt, immer mehr Autos überflüssig zu machen, wird von Fischer nicht erwähnt.4

Eine echte Kooperation mit den weniger entwickelten Ländern des globalen Südens setzt für Fischer voraus, dass ihnen die Chance auf einen CO2-Neutralen Entwicklungspfad gegeben wird. „In der Frage der Zukunft Afrikas verschränken sich Klimakrise, globale Transformation, Entwicklung, Verteilungsfragen und Machtpolitik.“ – Und es wäre heuchlerisch von ihnen einen Verzicht auf Entwicklung zu verlangen: Denn die bisherigen Treibhausgase wurden vor allem von den Ländern des globalen Nordens ausgestoßen – während der globale Süden überproportional an den Folgen zu leiden hat.
Für Fischer ist die Klimakrise inzwischen so gewaltig, dass er auch technologische Lösungen und Geo-Engineering für notwendig hält. Aber nicht, wie manche Leugner der Klimakrise meinen, um einfach weiterzumachen wie bisher – sondern lediglich um uns die Zeit zu erkaufen, die wir für eine Dekarbonisierung unserer Wirtschaft brauchen.
Die Übergangsphase von alter, machtbasierter zu neuer, konsensbasierter Außenpolitik wird also holprig – und bis alle an einem Strang ziehen, wird es noch eine Weile dauern.
Einer der Konflikte dieser Übergangszeit ist der Ukraine-Konflikt, der noch kein Krieg war, als Fischer das Buch schrieb. Russland sei das Land, das vielleicht noch am stärksten in der alten Machtlogik gefangen ist – Fischer vermutet, um damit von seiner technologischen Rückständigkeit und seiner schwachen, stark vom Rohstoff-Export abhängige Wirtschaft abzulenken.
Sehr deutlich weist er darauf hin, dass nicht etwa die NATO Russland durch immer weitergehende Osterweiterungen provoziert hat, sondern dass das Säbelrasseln und die Übergriffigkeit der Putinschen Westpolitik die Staaten Osteuropas in die Arme der NATO getrieben hätten. Innenpolitisch sei das für Putin zudem günstig: Die NATO ist ein seit Sowjetzeiten vertrautes Feindbild.
Überhaupt sei der Ukraine-Konflikt nicht geostrategischer Natur. „Putin fürchtet nicht die NATO,“ stellt Fischer fest. „Was er fürchtet, ist das Virus der Demokratie, einen zukünftigen Maidan auf dem Roten Platz in Moskau und auch die innere Verwestlichung Russlands.“
Doch glaubte Fischer nicht, dass Putin tatsächlich einen Angriff auf die Ukraine wagen würde – denn durch einen solche Krise würde den Europäer klargemacht „welchen Preis sie für die Energieabhängigkeit von Russland tatsächlich zu entrichten hätten, und sie würden alles unternehmen, um diese zu verringern oder zu beenden.“

Deutschland habe schon gewählt. Über Jahre hinweg hatten sich die Deutschen in der Ära Merkel behaglich eingerichtet. Doch dann kam die Corona-Pandemie und führte ihnen schonungslos die Defizite in den Bereichen Infrastruktur und Digitalisierung vor Augen, die die fast ein Jahrzehnt lang betriebene Politik der schwarzen Null hinterlassen hatte.
Daher wird Olaf Scholz eben nicht eine zweite Version von Angela Merkel sein können. Seine Regierung muss diese Rückstände angehen. Fischer glaubt, dass die Realität für diese Regierung ein harter Lehrmeister sein werde und dass Scholz zu einem „Kanzler der Zumutungen“ werden müsse.
Bereits heute kann man feststellen: Fischer hat mit seiner Prognose ganz anders Recht behalten als gedacht. Ob die Regierung in dem Umfang aus der geänderten Realität lernt wie von Fischer erhofft, bleibt abzuwarten. Sein zuversichtlicher Blick in die Zukunft könnte gleichwohl angebracht sein: Er ist überzeugt, dass die notwendigen Transformationsprozesse gelingen können und das Überleben der Spezies Mensch ermöglichen werden – und wir zumindest den Anfang dieser Prozesse miterleben werden.

Anmerkungen:

Der Verlag Kiepenheuer & Witsch hat mir ein kostenloses Rezensionsexemplar dieses Buches zur Verfügung gestellt. Vielen Dank!

Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: U.S. Forest Service- Pacific Northwest Region, Lick Fire on the Umatilla National Forest burning at night, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.

1 Ein Blick auf die Feuerkarte der NASA zeigt, dass das kein leeres Gerede ist; überzeugt euch selbst [hier].

2 Laut einer Aufstellung der kalifornischen Feuerwehr, gefunden bei Wikimedia Commons unter folgenden Lizenzangaben: Calfire, Top 20 Wildfires in California, 1932 – Sept 10, 2021, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons.

Calfire, Top 20 Wildfires in California, 1932 – Sept 10, 2021, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

3 vgl. den Wikipedia-Artikel Waldbrände in Sibirien 2021; den vollständigen Artikel finden ihr [hier].

4 Einige Ideen, wie eine Welt mit weniger Autos aussehen könnte gibt Katja Diehl in Ihrem Buch Autokorrektur – Mobilität für eine lebenswerte Welt, das ich in diesem Blog am 11.03.2022 besprochen habe; einen Link zu meiner Besprechung findest du [hier].