Uprising – Amerikas neue Linke
von Lukas Hermsmeier
Klett-Cotta, 320 S., 22,00 €
„Wohin steuert Amerika?“ fragte sich Der Spiegel vor der Präsidentschaftswahl im Jahr 2000.* Was folgte – der knappe und vor Gericht erstrittene Sieg von George W. Bush, die enttäuschende Präsidentschaft von Barack Obama und die darauf folgende von Donald Trump – ließ für europäische Beobachter den Eindruck entstehen: Amerika driftet immer weiter nach rechts.
Doch diese Sichtweise bedarf der Ergänzung: Nicht nur die politische Rechte ist erstarkt, sondern auch auf der Linken haben sich im ganzen Land neue Bewegungen gebildet.
In seinem Buch Uprising – Amerikas neue Linke gibt der in New York lebende Journalist Lukas Hermsmeier einen Überblick über diese Gruppen und ihre Ziele; denn er ist überzeugt: „Wohin die USA in den kommenden Jahren und Jahrzehnten steuern werden, wird auch von diesen Bewegungen abhängen.“
Deren gemeinsames Ziel ist, den „kapitalistischen Status quo mit seiner Profitlogik“ schrittweise zu überwinden. Gleichzeitig wollen sie bereits mit den ersten Schritten auf diesem Weg drängende Probleme des amerikanischen Alltags angehen und zum Beispiel den Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildungsangeboten erweitern, das Polizei- und Gefängnissystem reformieren und möglichst viele Amerikaner:innen aus der Schuldenfalle befreien.
Diese Aktivist:innen bezeichnen sich selbst oft nicht nur als ‚progressiv‘ oder ‚links‘, sondern als ‚sozialistisch‘ – und schrecken damit kaum noch jemanden ab; denn einer wachsenden Zahl von Amerikaner:innen wird zunehmend klar: dem kapitalistischen System „sind die Argumente schon vor einiger Zeit ausgegangen.“
Trotzdem war die Zeit lange nicht reif für eine Neuformierung der amerikanischen Linken: Die in den 1980er Jahren in Mode gekommene Behauptung, das kapitalistische System sei alternativlos hatte ungeahnt lange Beine – und wurde auch von linken Parteien übernommen. Als um das Jahr 2000 eine Diskussion über Alternativen wieder mühsam in Gang gekommen war, wurde sie zuerst durch die Niederlage Al Gores gedämpft** und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erstmal ganz vertagt: Die Verteidigung des angegriffenen Status quo erschien auf einmal wichtiger als seine seine Überwindung.
Mit seinem „Yes, we can“ griff Barack Obama in seinem ersten Wahlkampf im Jahr 2008 diese Ideologie der Alternativlosigkeit an und versprach eine andere Politik – und politisierte so eine neue Generation von Amerikaner:innen. „Obama war ein Symbol. Und er ist auch heute noch ein Symbol, allerdings für etwas anderes: Desillusionierung.“
Trotz ihrer Enttäuschung wandten sich seine ehemaligen Unterstützer:innen in den nächsten Jahren nicht von der Politik ab, sondern organisierten sich in kleinen, lokalen Gruppen um ihre Anliegen weiter zu verfolgen, andere zum Mitmachen zu bewegen und sich mit anderen Gruppen im ganzen Land zu vernetzen.
Zum prägenden Erlebnis dieser Aktivist:innen-Generation wurde Occupy Wallstreet. In ihrem Camp im New Yorker Zuccotti Park zeigten die Besetzer:innen, wie eine Gesellschaft ohne die Profitlogik des kapitalistischen Systems aussehen könnte, die auf Selbstbestimmung und Kooperation basiert und in der soziale Dienste wie medizinische Versorgung und Bildungsangebote kostenlos für alle zur Verfügung stehen.
Gleichzeitig kam eine Diskussion über mögliche Alternativen zum kapitalistischen System in Gang; bis heute prägen damals entstandene Zeitschriften und Diskussionsforen diese Debatte: „Das Erbe von Occupy liegt also auch darin, dass sich eine neue linke intellektuelle Kraft entwickelt hat.“
Durch Occupy wurde so viel Energie freigesetzt, „dass verschiedene Strömungen davon angetrieben wurden.“ – Eine Reihe neuer Graswurzel-Bewegungen schoss aus dem Boden, in denen sich Bürger:innen langfristig engagierten und – zunächst jenseits der beiden etablierten Parteien – politische Ziele verfolgten.
Eine gerechte Gesellschaft ist ohne die gleichberechtigte Teilhabe der nicht-weißen Amerikaner:innen undenkbar; denn in den USA ‚class‘ und ‚race‘ unentwirrbar miteinander verflochten. Soziale Bewegungen verfolgen daher gleichzeitig immer auch emanzipatorische Ziele.
Einige Gruppen fordern zum Beispiel die Abschaffung bzw. radikale Neugestaltung des amerikanischen Polizei- und Gefängnissystems, das latent rassistisch ist: People of Color werden öfter von Polizist:innen kontrolliert, härter von Gerichten verurteilt und müssen häufiger ins Gefängnis – auch weil ihnen oft schlicht die Mittel fehlen, eine Geldstrafe zu bezahlen.
Gleichzeitig wird eine Abschaffung der Polizei verbunden mit dem Ausbau der Sozialarbeit allein kaum reichen, um den People of Color eine wirksame Teilhabe zu garantieren. Dazu bedarf es außerdem einer deutlichen Verbesserung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Ein Weg dahin könnte sein, sie an den Vermögenswerten zu beteiligen, die durch die Sklavenarbeit ihrer Vorfahren geschaffen wurden.
Ebenso sind die indigenen Völker für den Raum ihres Landes und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch die weißen Siedler:innen zu entschädigen. Dazu wäre auch eine Änderung der amerikanischen Lebensweise erforderlich: Für die indigenen Völker sind Mensch und Natur eine Einheit – und der Mensch darf der Natur nur das entnehmen, was sie nachwächst. Naturgüter können nach diesem Verständnis nicht das Eigentum eines Einzelnen sein, sondern werden „in kollektiver Verantwortung geteilt, gepflegt und bewirtschaftet.***
Hier treffen sich die Forderungen der indigenen Aktivist:innen mit denen der Klimaschutzbewegung: Denn die Klimakrise ist im Augenblick die größte Bedrohung unserer Lebensweise; zugleich ist sie für die indigenen Völker kein singuläres Ereignis, sondern die logische Konsequenz und das vorerst letzte Glied einer Kette der Aneignung und Zerstörung der Natur durch die weiße Siedler:innen und ihre Wirtschaftsweise.
Eine andere Gruppe sind die Gewerkschaften in denen sich eine neue ‚working class‘ formiert, die ganz anders aussieht als die traditionelle Arbeiterklasse; ihr Idealtyp ist nicht mehr weiß, männlich und in der Industrie beschäftigt, sondern viel häufiger nicht-weiß, weiblich und im Dienstleistungssektor tätig.
In ihren Arbeitskämpfen fordern diese Arbeiter:innen nicht nur mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch mehr Mitbestimmung – was zum Beispiel bei Tech-Unternehmen bedeuten kann: Die Mitarbeiter:innen wollen über die Verwendung der von ihnen geschaffenen Produkte mitentscheiden.
In dem diese neue Arbeiter:innen-Bewegung die „Demokratisierung aller Arbeit“ fordert, fordert sie auch die Abkehr von zentral geführten und streng hierarchischen Großkonzernen wie Facebook und Amazon, die den Wettbewerb beliebig manipulieren und nahezu ausschalten können.****
Außerdem möchten sie eine – nicht nur materielle – Aufwertung der meist weiblichen Care-Arbeit in der Pflege, im Gesundheits- und Bildungswesen und in den Familien erreichen.
Immer öfter versuchen Aktivist:innen auch Einfluss auf politische Entscheidungen in ihrer Stadt, ihrem Bundesstaat und auch in Washington zu gewinnen. Das amerikanische System der Vorwahlen begünstigt sie, weil nicht die Parteien, sondern deren registrierte Wähler:innen über die Kandidat:innen entscheiden.
Auf diesem Weg konnten Graswurzel-Bewegungen, die über viele engagierte Aktivist:innen verfügten und viele kleine Spenden einwerben konnten, immer wieder Kandidat:innen in lokale Vertretungen, Parlamente der Bundesstaaten und sogar in den US-Kongress bringen.
Auch wenn es bisher nur 12 Kandidat:innen auf diesem Weg in den Kongress geschafft haben, sind diese eine relevante Größe geworden: Mit einem gut organisierten Netzwerk aus freiwilligen Helfer:innen und Spender:innen, aus Graswurzelbewegungen und Denkfabriken bringen sie weit mehr Gewicht auf die Waage als ihre bloße Stimmenzahl vermuten lässt.
Das ist auch nötig. Denn längst haben sich die meisten amerikanischen Linken von der Vorstellung „eines großen revolutionären Knalls, der plötzlich alles gut macht“ verabschiedet. Sie wissen, dass „eine sozialistische Bewegung, die die Gegenwart aus Kompromisslosigkeit unberührt lässt, […] wenig wert [ist].“ Mehrheiten wird sie nur erringen, „wenn es ihr im Hier und Jetzt – entgegen aller Widrigkeiten – gelingt bessere gesellschaftliche Verhältnisse zu offerieren.“
Aus diesem Blickwinkel sind praktische Politik und radikale Theorie keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille: Der Weg zu einem selbstbestimmten Leben in einer gerechteren Gesellschaft besteht aus unzähligen kleinen Schritten.
Das kann man für typisch amerikanisch halten, vor allem wenn man die zweihundertjährige Geschichte der USA als den immer noch unvollendeten Versuch beschreibt, das zentrale Versprechen der Unabhängigkeitserklärung einzulösen – und jedem Menschen die Möglichkeit zu geben nach seinem Glück zu streben.
Gleichzeitig liegt genau darin, das Streben nach Glück – also den Weg – zum Ziel zu machen, eine Chance, eine Utopie für die Gegenwart zu formulieren und linke Gruppen rund um den Globus zu inspirieren; denn: „Liegt die Utopie nun in der Zukunft oder beginnt sie mit der Art, wie sich Menschen in der Gegenwart begegnen, organisieren, zu Entscheidungen kommen und Ziele verfolgen?“
Anmerkungen:
Das Bild zu diesem Beitrag stammt aus den Wikimedia Commons und wurde unter folgenden Lizenzangaben veröffentlich: rockcreek from Washington, D.C., Arcadian D.C. (4583547595) (3), CC BY 2.0
* vgl. Der Spiegel vom 05.11.2000; einen Link zu dem auch von der graphischen Gestaltung her ungewöhnlich gelungenen Titel findest du [hier].
** Für linke war besonders verstörend, dass es zu dieser Niederlage auch wegen der Kandidatur von Ralph Nader kam – es ist ein tragischer Treppenwitz der Geschichte, dass ausgerechnet der Kandidat der Grünen Nader einen Beitrag dazu geleistet hat, die Präsidentschaft des Umweltaktivisten Gore zu verhindern.
*** Leider verheddert sich Hermsmeier bei der Erörterung des dahinter stehenden Verständnisse von Eigentum in seiner Argumentation, weil er Besitz und Eigentum als Synonyme verwendet und übersieht: Um den juristischen Begriff ‚Besitz‘ lässt sich eine kohärente Welt ohne ‚Eigentum‘ denken.
**** Einiges über zwei dieser Unternehmen könnt ihr in den folgenden Büchern erfahren: Ausgeliefert – Amerika im Griff von Amazon von Alex MacGillis, in diesem Blog besprochen am 03.12.2021, meine Besprechung findest du [hier], und Inside Facebook – Eine hässliche Wahrheit von Scheera Frenkel und Cecilia Kang, in diesem Blog besprochen am 25.02.2022, diese Besprechung findest du [hier].